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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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aussah.
    »Deine Hände, Jari«, sagte Matti. »Dein Gesicht. Ist das …«
    Jari nickte. »Ja, Matti, Blut. Ich bin der dritte Jäger.«
    Matti trat näher, und Jari wünschte, er hätte ihn davon abhalten können. Er trat an das Grab.
    »Ein Grab für ein Reh?«, fragte Matti. »Schießt man denn ein Reh nicht, um es zu irgendetwas zu … verarbeiten?«
    Jari schwieg.
    »Es war kein Reh, oder?«, flüsterte Matti, und sein Blick wanderte zu dem Gewehr im Schnee. Jari hob es auf und hängte sich den Riemen um. »Ich habe eine Schlucht gefunden, Jari, voller toter Rosenbüsche … Da unten, unter einem Haufen von Steinen, liegen zwei Tote. In orangen Warnwesten. Ich habe sie wieder mit den Steinen bedeckt … keine Rehe, Jari. Keine Rehe.«
    »Nein«, sagte Jari. »Rehe tragen selten orange Warnwesten.«
    Matti lachte nicht. Natürlich nicht. »Ich bin gekommen, um dich heimzuholen«, sagte er leise. »Aber ich weiß nicht mehr, was ich sehe. Was passiert hier?«
    Jari sah weg. »Der dritte Jäger schießt gewöhnlich nicht auf Rehe. Das wolltest du doch hören, nicht wahr? Die Beute des dritten Jägers flieht auf zwei Beinen. Sie entkommt ihm nie. Es geschieht alles für die Schönheit. Sie leben für die Schönheit, die drei Mädchen, von denen ich dir erzählt habe, Matti. Wer die Schönheit stört, wird geopfert. Jemand wollte eine Straße bauen in diesem Wald. Niemand wird eine Straße bauen.«
    Matti starrte ihn an und schüttelte wieder den Kopf. »Wer die Schönheit stört …?«
    »Ja. Hier im Wald herrscht die Schönheit, die Perfektion«, sagte Jari. »Solange die Nachtigall singt. Wenn du die Mädchen sehen würdest, würdest du es verstehen. Sie … sind wahnsinnig. Schön und wahnsinnig. Du kannst mich nicht zurückholen. Sag ihnen, du hättest mich nicht gefunden! Ich … ich habe die Welt draußen verloren. Matti, ich bin ein Mörder.« Er sah auf seine Hände hinab, sah Matti wieder an. »Und … da ist sie. «
    »Sie?«
    »Eine der Schwestern. Eine hat sich geändert, die Jüngste, Jascha. Ich … ich bleibe, um sie zu schützen. Ich glaube … ich liebe.«
    »Du hast immer gesagt, es ist Unsinn, wenn ich von der Liebe gesprochen habe. Du hast gelacht.«
    »Ja. Ich habe gelacht. Ich lache nicht mehr. Ich lache nur noch sehr selten. Geh.«
    Matti schüttelte wieder den Kopf. Er griff in die Tasche und zog sein Handy heraus: ein Gegenstand, der Jari hier seltsam und lächerlich vorkam. Und dennoch, vielleicht, tödlich.
    »Ich hole Hilfe«, sagte Matti noch einmal. »Jetzt.«
    Das Gewehr sprang in Jaris Hände wie von selbst. Seine Finger luden nach und entsicherten, ohne dass er es ihnen befohlen hatte. Er sah, wie Matti in seinen eigenen Spuren zurückwich.
    »Was … was soll das?«, stammelte er. »Jari, das tust du nicht wirklich … Das meinst du nicht ernst, ich … Nimm das Ding runter!«
    »Wirf das Handy weg. Du wirst niemanden hierherholen. Abgesehen davon, dass niemand uns finden würde.«
    »Jari, hör auf mit dem Unsinn!«
    Er ging Matti nicht nach, doch er folgte jeder seiner Bewegungen mit dem Lauf des Gewehrs. »Das Handy, Matti. Wirf es weg.«
    Matti ließ das Handy fallen. Es fiel ohne ein Geräusch in den Schnee.
    »Tritt darauf«, befahl Jari.
    »Du hast sie ja nicht mehr alle«, sagte Matti.
    »Tritt darauf!«
    Matti zuckte die Schultern, aber er tat, was Jari sagte. Er hörte das Handy unter Mattis Stiefeln knirschen und zerbrechen.
    »Wenn du dich einmischst«, sagte Jari leise, »dann wird alles nur schlimmer. Wenn du dich einmischst, sind wir vielleicht tot. Jascha und ich. Und du sowieso. Geh. Du kannst hier niemanden retten.«
    »Du bist ja übergeschnappt!« Matti ging noch einen Schritt rückwärts. Er stand jetzt wieder unter den Bäumen am Rand der Lichtung, als hoffte er, die Bäume und ihre überhängenden Zweige könnten ihn vor der Wahrheit schützen. Die Wahrheit war, dass sein bester Freund ein Gewehr in den Händen hielt und auf ihn zielte. »Du bist völlig wahnsinnig, Cizek. Oder bist du nur betrunken?«
    Jari lachte bitter. »Ich wünschte, ich wäre es. Und natürlich bin ich es ab und zu. Das und die Pilze, das ist das Einzige, was gegen die Wahrheit hilft.«
    »Weißt du denn nicht mehr?«, sagte Matti. »Mein Fensterbrett? Die Nächte, die wir da saßen, und all die Bierflaschen … und als wir klein waren, kleine Jungen, haben wir uns versprochen, uns immer gegenseitig zu helfen … wie Indianer oder Cowboys oder … Star Wars -Helden …

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