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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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letzten Moment. Wie schrecklich es war, an diesen Stolz in seinem Blick zu denken!
    Jari bettete sein Gesicht in Mattis Handfläche, und so kniete er lange wie in einem absurden Gebet. Er wollte nie wieder aufstehen. Er wollte sich in Branko verwandeln, seine Augen gerinnen und seinen Verstand bei Matti unter dem Felsen lassen. Am schlimmsten war es, für diesen einen Moment gehofft zu haben.
    Irgendwann hob er doch den Kopf. Am Ausgang der Klamm stand Jascha, sie stand noch immer dort, wo der Hirsch gelandet war. Sie sah sehr klein und sehr verlassen aus. Wie ein Kind. Sie blickte zu ihm, doch sie schien es nicht zu wagen, näher zu kommen.
    Da stand er auf und ging zurück zu ihr.
    »Ich konnte es nicht«, flüsterte sie, als er bei ihr ankam. »Ich konnte nicht noch einmal dorthin gehen und Matti sehen … Ich … ich wusste … es ist meine Schuld.«
    »Unsere«, sagte Jari.
    Und er nahm die Hand des verlassenen Kindes und führte es fort vom Todesvogel, fort von der Klamm, fort von den Resten einer in sich zusammengebrochenen Welt. Denn das verlassene Kind lebte, und Matti war tot. Matti nützte es nicht mehr, wenn Jari bei ihm blieb.
    Sie gingen rasch. Erst als sie die Klamm nicht mehr sehen konnten, hielten sie wieder an, setzten sich auf einen Baumstamm, beide zittrig und erschöpft.
    Der Wald war sehr still. Die Blätter der hohen Buchen schienen zu zittern, als kostete es sie beinahe übermäßige Anstrengung, sich nicht zu rühren, als wollten die Bäume ihre rauschenden Stimmen zu einem Schrei erheben und durften nicht.
    »Ich habe das Haus angezündet«, flüsterte Jascha in die Stille hinein.
    »Du hast – was ?«
    »Das Haus angezündet. Das Feuer zurückgerufen in das Efeuhaus im Wald. Ich habe Jolandas Fuchs fortgejagt, damit ihm nichts geschieht. Der Fuchs kann nichts dafür. Dann habe ich … ich habe den Hohlkörper des Cellos mit allen Notenblättern ausgestopft, die ich finden konnte, und ein Streichholz darangehalten. Es hat gebrannt wie eine Fackel. Es war alles ganz leicht … Ich habe die Fackel an die spanische Wand gelehnt, die hölzerne spanische Wand, und das war alles. Den Rest hat das Feuer selbst erledigt. Das Lied, Jari, das Lied von der Nachtigall ist mit den Instrumenten verbrannt. Jedes Wort. Jede einzelne Note. Und mit dem Lied alle Melodien, die wir je zusammen gespielt haben. Und mit den Melodien die ausgestopften Tiere und mit den Tieren die Schneiderpuppen. Alle Schneiderpuppen, lauter Fackeln mit blinden Gesichtern … Sie existieren nicht mehr. Genauso wenig wie Joana und Jolanda.«
    »Joana, Jolanda«, murmelte Jari, als müsste er die Namen noch einmal aussprechen, ein letztes Mal, um sie loszuwerden. Er sah den Spott wieder in Joanas Augen blitzen, sah die gefühllose Kälte in Jolandas Blick. Er schüttelte sich. Existierten sie wirklich nicht mehr? Wie konnte Jascha sich so sicher sein?
    »Was war es, das du in die Luft geworfen hast? In der Klamm?«
    Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen an, doch die Augen schienen ein wenig heller geworden zu sein über Nacht. »Federn. Die Federn der ausgestopften Nachtigallen. Von jeder eine. Auch sie sind jetzt frei. Ich brauche sie nicht mehr.«
    »Du … brauchst … ich verstehe nicht.«
    »Das macht nichts«, sagte sie sanft, und plötzlich weinte sie, hing in seinen Armen und schluchzte, würdelos, aufgelöst, kindlich. Laut. Es war niemand mehr im Wald, der sie hörte. Menschen sind nicht schön, wenn sie sich gehen lassen, nicht einmal Jascha war schön dabei. Jari hielt sie fest. Mehr konnte er nicht tun.
    Schließlich gingen sie weiter, in Richtung des Waldrands, in Richtung des Tals, in Richtung der Dörfer. Sie gingen langsam. Sie schwiegen. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Manchmal hielten sie sich an den Händen.
    Es war Zeit für die Nebel, doch sie befanden sich nicht mehr im Nebelwald. Das Einzige, was über die Bäume sank, war die Dämmerung.
    Und dann traten sie aus dem Wald.
    Die ersten Sterne standen hoch am Himmel. Der Abendstern saß auf dem verschneiten Bärenfelsen. Auf der Sturmhöhe war es windstill. Und das Tal lag vor ihnen wie ein Fest aus lauter Lichtern.
    »Es ist nicht so spät, wie man denkt«, flüsterte Jascha. »Es ist Winter. Es fühlt sich an wie Mitternacht. Aber es ist vielleicht nicht einmal neun.«
    »Es ist nie so spät, wie man denkt«, sagte Jari und lächelte.
    Sie wanderten den Weg zwischen den kleinen Gärten Arm in Arm hinunter – wie ein Pärchen, das von einem

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