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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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einem solchen Augenblick sagte. Er sagte: »Und? War es schön?«
    »Darum ging es nicht«, erwiderte Jascha.
    Beinahe lachte Jari. Und dann drückte er sie noch einmal an sich, fester als zuvor.
    »Also bleibt wenigstens etwas von ihm«, flüsterte er. »Das ist gut, dass etwas bleibt.«
    »Aber es wird kein zweiter Matti. Es wird ein Mädchen. Auch das spüre ich.«
    »Ja?«
    »Ja. Ein einzelnes Mädchen, ein ganz eigenes, nicht eines von dreien. Kein Teil einer Einheit.«
    »In Ordnung«, sagte Jari erschöpft. All dies war nicht rational, er bezweifelte, dass sie wirklich schwanger war, und selbst wenn, dann konnte sie unmöglich wissen, dass das Kind ein Mädchen war. Aber er ließ ihr ihren Willen. »In Ordnung«, wiederholte er, »es wird ein Mädchen.«
    Und dann schlief sie ein, in seinen Armen, wie damals auf dem singenden Felsen, und er folgte ihr in den Schlaf.
    Er erwachte mitten in der Nacht.
    Was hatte ihn geweckt? Das Kind, dachte er. Das Kind hat wieder geweint.
    Jari setzte sich auf. Er befand sich nicht in seinem schmalen Zimmer im Haus mit den Efeuwänden, mitten im Wald. Er befand sich im Zimmer einer Pension. Und der Lichtschein, der durchs Fenster hereinfiel, stammte nicht vom Mond, sondern von der Straßenbeleuchtung, die die ganze Nacht über zu brennen schien. Der Radiowecker auf dem Nachttisch zeigte kurz vor halb vier. Neben Jari lag Jascha, auf der Seite, halb eingerollt, wie Kinder schlafen. Kinder.
    Natürlich, dachte er. Das Kind, das er hatte weinen hören, war immer Jascha gewesen. Vielleicht war sie es auch gerade eben gewesen; ein Schluchzen im Schlaf. Ein Teil von ihr war immer ein Kind geblieben. Das Kind, das in der Klamm seinen Vater verloren hatte und in der Höhle zu viel Blut gesehen.
    Jari lag eine Weile so neben ihr, doch er konnte nicht wieder einschlafen. Schließlich setzte er sich auf und griff neben sich, wühlte in seinen Kleidern auf dem Boden, fand in einer Jackentasche die Zeitung vom Bahnhof und blätterte unschlüssig darin herum.
    Unglücksort Nebelwald.
    Vielleicht half es, sich die alten Fotos anzusehen. Um die Geschichte ein für alle Mal aus seinem Kopf zu verbannen, mit ihr abzuschließen. Auf einem der Fotos erkannte er Branko, einen zehn Jahre jüngeren Branko. Er stand neben mehreren am Boden liegenden Körpern. Sie lagen auf einem Bürgersteig oder einem Bahnhofsvorplatz, als hätte er sie eben dort abgelegt. Im Hintergrund hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Jari hielt die Zeitung ins künstliche Licht, das auf das weiße Kopfkissen fiel. Das Foto war leicht verwackelt. Dennoch erkannte man die Anzahl der Körper ganz gut, Branko hatte sie ordentlich nebeneinander aufgereiht. Da war der Körper eines Mannes, und daneben lagen, genauso leblos, zwei kleinere, schmalere Körper, die Leichen zweier Mädchen von vielleicht acht Jahren.
    Jari spürte, wie ihm sehr kalt wurde. Der Raum drehte sich um ihn. Das Licht der Laternen draußen war gnadenlos hell und scharf. Er bekam jetzt schlecht Luft. Er überflog den Text neben dem Bild mehrfach, ohne dass die Sätze in sein Bewusstsein drangen, aber dann begriff er sie doch.
    Zwei der Kinder … zwei sind gefunden worden … das dritte nie … geht davon aus … von wilden Tieren verschleppt … die Leiche deshalb nicht … wurden zusammen mit ihrem Vater bestattet, der … zwei … zwei sind gefunden worden … das dritte nie.
    Aber da lag es neben ihm, das dritte kleine Mädchen, und atmete die Nacht ein und aus und schlief. Sie hatte nie wirklich schlafen können, hatte sie gesagt, aber wenn sie neben ihm lag, schlief sie. Er, er hatte es gefunden, das dritte kleine Mädchen. Er zwang sich, ruhig zu atmen.
    Es konnte nicht sein.
    Er weigerte sich, das zu glauben.
    Er schlug die Decke zurück.
    Jascha war nackt, ihre schmutzigen, zerrissenen Kleider lagen auf dem Boden neben Jaris eigenen Kleidern. Im Papierkorb des Hotels, einem braunen Plastikeimer neben der Heizung – er sah es erst jetzt – lag etwas Zerknülltes, in sich Verklebtes, wie ein abgezogenes Stück Gaze. Oder mehrere.
    Jaris Blick kehrte zurück zum Bett. Jaschas blasser Körper war dem Licht der Straßenlaterne ausgeliefert, hilflos, während sie schlief. Da waren keine weichen, glänzenden Stoffe, keine malerische Umgebung, keine Zweige in Vasen, keine Kerzen, kein Kaminfeuer mit freundlichem, warmem Schein. Da war nur Kälte in dem Licht von draußen – und ihr Körper. Sie war nie so schön gewesen.
    Er fand die

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