Solange die Nachtigall singt
Äste hinter sich brechen, in der Ferne.
»Sie kommt«, sagte Matti. »Jascha. Das ist sie, sie hat uns eingeholt.«
Jari schüttelte den Kopf. »Unter Skiern brechen keine Äste.«
Er drehte sich um – und sah. Sah, was da kam, fern noch, klein zwischen den Bäumen. Es war ein Hirsch. Auf seinem Rücken saßen zwei Reiterinnen. Oder war es nur eine?
»Schnell«, sagte er. »Weiter! Das sind sie, Matti. Joana und Jolanda. Schnell!«
Er dachte, der Hirsch würde sie in Sekunden einholen, doch die Reiterinnen spielten ein Spiel mit ihnen. Sie waren einmal rechts, einmal links, sie jagten ihre Beute, kreisten sie ein, trieben sie in eine Richtung wie ein Hütehund seine Herde. Jari glaubte, ihr glockenhelles Lachen zu hören. Er sah die beiden nie genau, sah stets nur ein Stück Mantel, ein Geweih, einen aufblitzenden Huf.
»Jari«, keuchte Matti. »Ich … ich kann nicht mehr, bitte …«
Jari zerrte ihn vorwärts. »Bleib nicht stehen. Sieh dich nicht um.«
Er zwang sich selbst, sich nicht mehr umzudrehen – und dann tat er es doch. Diesmal sah er die vordere der beiden Reiterinnen ganz deutlich. Sie saß sehr aufrecht, das weiße Haar fiel offen um ihr Gesicht wie ein merkwürdiger Heiligenschein. Die heilige Joana, dachte er, Rächerin aller entführten Kinder. Oder die heilige Jolanda, Königin der Herzenskälte. In ihren schlanken weißen Händen hielt sie ein Zepter: das Gewehr.
So würden sie also einmal doch selbst schießen müssen. Wahrscheinlich konnten sie es besser, als ihre drei Jäger es gekonnt hatten. Er ließ sich nichts mehr vormachen.
Dies war das Ende seiner Geschichte im Wald.
Verdammt, er war so voller Hoffnung gewesen. So voller Zuversicht, dass sie entkommen würden. Als Jascha ihn aus dem schwarzen Wasser ins Leben zurückgeholt hatte, war er bereit gewesen, an alles zu glauben; an das Leben, an das Glück, an das Gute. Sogar an die Liebe.
Aber Jascha war nicht zurückgekommen. Was war geschehen? Hatten die beiden auf dem Hirsch schon eine ihrer Kugeln verbraucht? Er wollte diesen Gedanken nicht denken. Er rannte weiter, neben Mattis Skiern her, sah den dunklen Fleck auf Mattis Pullover. Die Wunde suppte wieder, Matti würde nicht mehr lange durchhalten. Er würde einfach in den Schnee fallen, und Jari würde bei ihm bleiben, und die Büchse würde ihr Ziel finden. Diesmal wäre er auf der anderen Seite des Laufs.
Er rannte weiter, weiter. Schon bald unterbrachen die Felsen den Wald. Und Jari begriff das Spiel der Mädchen auf dem Hirsch. Sie hatten Matti und ihn zum Eingang der Klamm getrieben.
Matti bremste die Skier. Jari blieb stehen.
Im gleichen Moment raschelte es dicht neben ihnen. Etwas hechtete aus dem Unterholz wie ein fliehendes Tier. Jascha.
»Nein!«, rief sie. »Nicht! Nicht in die Klamm!«
Es gab keine Zeit für abgehackte Erklärungen, Vorwürfe, Fragen. Wo warst du … Warum bist nicht früher … Ich dachte, du würdest … Wo sind deine Skier ge …
Ich habe euch doch gesagt … Ihr solltet doch nicht … Ich wünschte, ihr … Ich hätte früher, aber … Es hat länger gedauert, zu …
»Nicht in die Klamm!«, wiederholte sie flüsternd, flehend. Ihr Haar war zerzaust, sie nahm Jari bei der einen Hand und packte Matti mit der anderen.
»Was ist dort?«, flüsterte Matti und streifte die Skier ab. »Ich bin durch die Klamm gekommen. Es ist nichts passiert.«
Jari suchte den Hirsch zwischen den Bäumen, die hier eine dichte grüne Mauer bildeten. Er hörte ihn näher kommen, sah ihn jedoch nicht. Worauf warteten die beiden Reiterinnen?
»Ich weiß nicht, was in der Klamm ist«, antwortete Jascha; ihre Worte überschlugen sich vor Eile. »Ich habe sie nur reden hören, sie haben etwas getan, irgendetwas, nachdem du gekommen bist. Wir müssen zurück und außen herum.«
»Es ist zu spät«, sagte Jari. »Wenn wir zurückgehen, haben sie uns. Sie haben das Gewehr.«
»Und ich kann nicht mehr«, sagte Matti. »Einer muss durch die Klamm gehen. Sie warten darauf, dass einer es tut. Wenn es das ist, was sie wollen …«
Er machte sich von Jaschas Hand los, ohne ein weiteres Wort abzuwarten, betrat die Klamm und ging sie entlang. Im Gehen krempelte er seine Ärmel hoch. Jari wusste, dass er es tat, damit man die Tätowierung sah. Einen Augenblick lang war er wie gelähmt, er sah Matti zwischen den Felsen davongehen wie in einem Traum, während Jascha neben ihm stand, versteinert wie er.
»Nein«, flüsterte sie. Und rief, schrie, brüllte
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