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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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eine Flasche Saft und eine Zeitung. Er kaufte die Zeitung nur, weil ihm die Überschrift ins Auge sprang: Unglücksort Nebelwald . Es war gut, dass es dunkel war und der Bahnhof schlecht beleuchtet. Niemand sah das Blut an seinen Händen, und niemand sah diese Hände zittern, als er die Zeitung nahm.
    Er las sie auf einer grauen Plastikbank. Jascha lehnte sich an ihn und kaute mit geschlossenen Augen auf einem der stahlharten Brötchen herum.
    »Willst du wissen, was sie schreiben?«, fragte er. Sie schüttelte müde den Kopf.
    Und auch Jari wollte es nicht wissen, er wollte das Wort Nebelwald nie wieder hören oder lesen, er wollte die Zeitung zusammenknüllen und in den Mülleimer werfen, aber etwas in ihm zwang seine Hände, die richtige Seite zu suchen. Der Förster, schrieb die Zeitung, der seit einiger Zeit von Angehörigen vermisst wurde, schien zuletzt in den Nebelwald hinaufgegangen zu sein … hatten die Wölfe wieder zugeschlagen? Die Landvermesser vermisste offenbar noch niemand. Aber der kurze Abschnitt über Tronke war nur die Einleitung zu einem weiteren Artikel, dessen Titel rot und sensationshungrig von der Seite leuchtete: Entführungsdrama bald zehn Jahre her.
    Da waren Bilder, unscharfe Bilder von damals, aber Jari wollte sie nicht sehen. Er steckte die Zeitung in die Tasche. Der Zug kam, es schneite wieder. Jari ließ sich auf eine der gepolsterten, hässlichen Bänke fallen, und Jascha setzte sich neben ihn: blass und müde, Augenringe unter ihrem dunklen Blick, Schnee im weißen Haar. Der Zug war beinahe leer. Nur ein halb bewusstloser Trinker mit einer Bierflasche in der Hand starrte sie eine Weile an. Die Melodie, die die einzelnen Bahnhöfe ankündigte, war unbeschreiblich unmelodisch. Jascha schlief an Jaris Schulter ein.
    In Zittau gab es keinen Anschluss mehr. Sie fanden eine Pension, fanden neue Namen, die sie ins Gästebuch schrieben. Fanden jemanden, der ihnen mit gewisser Widerwilligkeit einen Zimmerschlüssel gab. Als sie in dem winzigen Bad nebeneinander am Waschbecken standen und in den Spiegel blickten, verstand Jari die Widerwilligkeit. Sie sahen aus wie Überlebende eines Unglücks, obwohl man nicht genau sagen konnte, welcher Natur das Unglück gewesen war. Nie hatte er zwei so übernächtigte, dreckige, zerzauste Menschen gesehen.
    Die Dusche war zu klein, um zu zweit darin zu duschen. Er ließ ihr den Vortritt. Sie duschte lange.
    Später, im Bett unter den Decken, die nach Hotelwaschmittel rochen, weinte sie um Matti. Jari hielt sie wieder fest, vielleicht würde sein Leben von nun an daraus bestehen, sie festzuhalten.
    »Du brauchst nicht zu weinen«, flüsterte er zwischendurch, immer wieder. »Es ist gut. Es ist alles gut. Matti war glücklich, am Ende. Er wollte ein Held sein, und er war ein Held.« Aber er weinte mit ihr. Sie weinten auch um Branko. Um Tronke. Um die Landvermesser. Um den ersten und den zweiten Jäger. Und, dachte Jari, trotz allem – um Joana und Jolanda.
    »Jari«, wisperte Jascha schließlich, als keine Tränen mehr da waren und die ganze Rolle Klopapier aus dem Bad zum Naseputzen verbraucht. »Jari, ich muss dir etwas sagen.«
    »Was?«, wisperte er.
    Von draußen drang das künstliche Licht der Straßenlaternen herein, er sah ihr Gesicht nur halb, ein scharfer schwarzer Schatten malte die andere Hälfte aus. Sie drängte sich an ihn, ganz nah.
    »Ich bin schwanger.«
    »Wie bitte?«
    »Ja. Es ist noch sehr früh, aber ich weiß es. Ich spüre es.«
    Er schüttelte den Kopf. »Das ist … Unsinn, Jascha«, wisperte er. »Ich dachte, du hast nie … du hast doch gesagt …« Er stützte sich auf einen Ellenbogen und sah sie an. »Von wem?«
    »Matti«, antwortete sie.
    »Was?«
    »Ich … ich habe ihn im Wald gefunden, Jari, er hat nicht einmal versucht, den Wald zu verlassen. Er wollte dich immer noch retten, obwohl er wirr war vom Wundfieber. Was für ein Dickkopf. Ich habe ihn im Schuppen versteckt, das weißt du … Er tat mir so leid. Er hätte es niemals geschafft, so oder so. Und irgendwie war ich doch schuld daran, was mit ihm passiert war. Ich wollte etwas wiedergutmachen. Etwas für ihn tun, verstehst du?«
    »Du hast aus Mitleid mit Matti geschlafen?«
    »Ich fürchte, er …«
    »Nein. Fang jetzt nicht wieder an zu weinen. Bitte nicht.«
    Sie zog die Nase hoch. »Ich fürchte, er hat mich geliebt. Ich habe dich nicht belogen, vorher. Er war der Erste.«
    Jari schüttelte den Kopf. Er war zu verwirrt, um zu wissen, was man in

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