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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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plötzlich: »Matti! Komm zurück! Neeeeein!«
    Matti drehte sich um und winkte. Erschöpft. Lächelnd.
    Er wusste. Jari sah in seinen Augen, dass er wusste. Nicht, was geschehen würde. Aber dass es geschehen würde. Die Zeit brach auseinander; Matti ging die Klamm in Zeitlupe entlang. Ungefähr in ihrer Mitte, wo in einer Felsnische vor langer Zeit drei kleine Mädchen gewartet hatten, ungefähr in der Mitte der Klamm, da war etwas, gegen das Mattis Beine liefen; verborgene, unsichtbare Fäden, Fäden, an denen sein Gewicht zog, als er stolperte. Noch in der gleichen Sekunde löste sich etwas auf der Kante der Klamm, weit, weit oben. Jari sah den Felsen in die Klamm hinabsegeln wie einen Vogel mit steinernen Schwingen. Den Todesvogel. Er sah Mattis erhobenen Kopf, sah das unveränderte Lächeln auf seinem Gesicht. Sah die Tätowierung auf seinem Arm, das flammende Herz, durchbohrt von dem Dolch.
    Und dann war die Zeitlupe vorüber.
    Der Donner eines Aufschlags hallte noch durch die Klamm. In ihrer Mitte lag jetzt der Felsen, riesig und schwer. Und unter dem Felsen lag ein Körper. Jari sah ihn nicht, aber er wusste es.
    »Nein«, wisperte Jascha, kaum hörbar.
    Hinter ihnen näherten sich die Hufe des Hirsches.
    Abgesehen davon war es sehr, sehr still. Sämtliche Geräusche im Wald waren verstummt, als wäre alles Leben darin ausgestorben. Nein, dachte Jari. Als wäre alles, was er sah, nur ein Bild von allem, was er sah. Ein Bild ohne Ton, ein Bild, in dem die Natur verharrte, stumm, schweigend, den Atem anhaltend.
    Er hob den Kopf.
    Die Blätter der hohen Buchen am Rande der Klamm schienen zu zittern, als kostete es sie beinahe übermäßige Anstrengung, sich nicht zu rühren, als wollten die Bäume ihre rauschenden Stimmen zu einem Schrei erheben und durften nicht. Selbst die Tiere schwiegen, all die Tiere dort oben im Wald. Sie waren in der Bewegung eingefroren, für immer verharrend in einem Schritt, dem Heben eines Kopfes, dem lauschenden Aufstellen wachsamer Ohren.
    Etwas, das wussten sie alle, war geschehen.
    Etwas geschah noch.
    Jari sah den nächsten Felsen kippen. Er war weitaus größer als der erste, der Todesvogelfelsen. Auch er kippte in Zeitlupe, und plötzlich begriff Jari. Die Falle, die Matti ausgelöst hatte, hatte erst begonnen, zuzuschnappen. Dort oben hockte ein ganzer Zug von Todesvögeln, einer neben dem anderen, platziert von der Natur, doch von Menschenhänden sorgsam verbunden durch unsichtbare Mechanismen. Die Falle der Klamm war ein Kunstwerk, ein Lebenswerk, nach und nach zusammengefügt. Sie war das Lebenskunstwerk der tödlichsten Fallenstellerinnen des Waldes. Seiner Königinnen. Seiner Herrscherinnen. Seiner bösen Seele.
    Die Felsbrocken würden hinter jenem ersten Felsen niedergehen, näher am Eingang der Klamm, näher an Jari und Jascha, auch das begriff er in dieser Sekunde. Der Brocken, den Matti herabgerissen hatte, versperrte den Ausweg nach vorn, und hinter ihnen waren die Hufe des Hirsches jetzt ganz nah. Der Hirsch trieb sie vorwärts, dorthin, wo die Felsen sie zerquetschen würden. Nein, dachte Jari. Nein. Der Ausweg nach vorn war nicht ganz versperrt, noch nicht. Selbst die beste Falle hat ihre Fehler.
    Er merkte, dass er wieder rannte, Jaschas Hand in seiner, er spürte ihr Zögern und riss sie mit sich.
    Sie rannten gemeinsam auf Mattis Felsbrocken zu, während über ihnen schon die anderen Felsen in Bewegung gerieten; er hörte ihr steinernes Knirschen. Da war ein schmaler Raum zwischen dem Stein und der Wand der Klamm, durch den er Jascha hindurchzog. Der Fels hatte Sträucher und Grasbüschel mit sich in die Tiefe gerissen, sogar einen jungen Baum, und Jari sah die Schönheit seiner kahlen, gebogenen Winteräste unwirklich klar, während er sich an den ausgerissenen Wurzeln vorbeiquetschte. Auch die klaren, gezackten Ränder des Felsens, auch die filigranen Ornamente der trockenen Gräser waren schön. Nie zuvor hatte Jari die Schönheit so sehr gehasst.
    Während sie rannten, sah er aus dem Augenwinkel, dass Jascha in ihre Manteltasche griff. Sie holte etwas heraus, öffnete im Laufen die Hand – und es war, als stöben hundert kleine graue Vögel auf in den dunkler werdenden Himmel. Hundert Nachtigallen. Eine sah er genau. Es war keine Nachtigall. Nur eine kleine zartgraue Feder.
    Sie hatten das Ende der Klamm beinahe erreicht, da bebte der Boden. Sie fielen gleichzeitig, noch immer Hand in Hand. Hinter ihnen landete der Zug der Todesvögel am Boden der

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