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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Klamm, und die Welt zerbarst. Jari wandte den Kopf und sah die Staubwolke hinter Mattis Felsen emporschlagen wie eine Woge. Für Momente war nichts zu erkennen außer emporgeschleuderten Steinen und Erde. Es war, als bräche die Klamm vollends in sich zusammen, als bräche überhaupt der ganze Nebelwald in sich zusammen wie ein Kartenhaus aus Lügen und vorgespiegelten Wahrheiten, aufrechterhalten über mehr als zehn Jahre.
    Und mitten im Staub sah Jari den Hirsch springen. Er setzte in einem einzigen panischen Sprung über den ersten Felsen, Schaum vor dem Maul, die reine Angst im weit aufgerissenen Weiß seiner Augen. Ein Bild, dachte Jari, wie eine absurde Jägermeister-Reklame.
    Der Hirsch war ihnen gefolgt, ehe die Reihe der Felsen heruntergekommen war. Der Hirsch war reiterlos. Hinter ihm im aufwirbelnden Staub wurden für Sekunden Farbflecken mit in die Höhe gerissen und dann zu Boden geschleudert, unter Geröll und Steine gerissen, um dort begraben zu werden.
    Ein blutroter Ärmel.
    Ein golddurchwirkter, glänzender Saum.
    Eine reinweiße Haarsträhne.
    Jari dachte an das Kind, das brennend von der senkrechten Feuerwelle aus dem Fenster getragen worden war, das Kind, das kein Kind gewesen war. Genauso seltsam schwerelos wirkten die Ärmel, Mantelsäume und Haarsträhnen, die er nur für Bruchteile von Sekunden sah. Schwerelos und noch immer wunderschön.
    In ihrer Wut und ihrem Eifer, die Beute in den Tod zu treiben, waren die Fallenstellerinnen in ihre eigene Falle gegangen. Aber hatte Jari das rote und goldene Wirbeln im grauen Staub wirklich gesehen? Die Ärmel, die Mantelsäume, das flatternde Weiß gebleichten Haares? Waren die beiden Mädchen wirklich lebendig unter den Gesteinsmassen begraben worden – oder hatte er sich getäuscht, wieder einmal?
    Als der Staub sich legte, war die Klamm hinter Mattis Felsen auf halbe Höhe angefüllt mit Schutt. Unmöglich, dort die Überreste von irgendwem oder irgendwas zu finden.
    Der reiterlose Hirsch stand jetzt mit bebenden Flanken vor ihnen, und Jascha legte eine Hand auf seine weichen Nüstern.
    »Er … er hat sie abgeworfen«, flüsterte sie. »In seiner Panik. Mitten im Sprung.«
    Jari sah sie an, unentschlossen. »Hast du es auch gesehen, ja? Sind sie denn … glaubst du, sie sind …?«
    »Tot«, ergänzte Jascha, ohne zu zögern. »Ja, das glaube ich. Wer dort unter den Felsen liegt, Jari, der hat kein Leben mehr in sich.«
    »Das tut mir …«, begann Jari, doch sie legte den Finger auf seine Lippen und lächelte zu ihm auf.
    »Joana und Jolanda sind tot«, wiederholte sie wispernd, kaum hörbar. »Jari. Der Wald besitzt keine Herrscherinnen mehr. Wir sind frei.«
    Jari ging sehr langsam zurück zu dem Felsen. Sehr, sehr langsam. Vielleicht war dies der schwerste Gang seines Lebens. Schwerer noch als der Gang mit Branko über der Schulter, als er ihn zu seinem Grab auf der Lichtung getragen hatte.
    Ja, sie waren frei. Aber Matti würde nie mehr frei sein.
    Und dann sah er durch die Büsche, die der Felsen mitgerissen hatte, etwas Helles. Einen Arm. Einen bloßen Arm mit der Tätowierung eines flammenden roten Herzens. Das Rot brannte in Jaris Augen. Er war mit einem Satz bei dem Felsen, bei dem Durcheinander aus herabgerissenen Zweigen, Blättern, Gräsern und Wurzeln, kniete davor und bog die Äste zur Seite. Ein Teil von ihm wollte dies nicht tun, wollte sich abwenden und fortgehen, wollte nicht sehen. Einem Teil von ihm war übel. Aber ein anderer Teil sagte ihm, dass er nachsehen musste, ob nicht doch noch irgendwo Leben war unter dem Geröll. Wenigstens nachsehen.
    Einen Moment lang war er voller Hoffnung. Er musste sich geirrt haben, Matti lag nicht unter dem Felsen, der Todesvogel hatte ihn getroffen, aber nicht unter sich begraben … Er fand den Arm wieder und zog daran, zerrte, rief Mattis Namen.
    Doch Matti antwortete nicht. Es war nur sein Arm, der unter dem Felsengrab hervorragte wie in einem stummen letzten Gruß. Das rote Herz war alles, was blieb, und es würde ewig in Jaris Erinnerung bleiben. Mattis Körper lag unter einem Brocken steingewordener Angst, für immer gefangen in der tödlichsten Falle der Schwestern. Aber vielleicht, dachte Jari, ist es keine steingewordene Angst. Vielleicht hätte Matti gesagt, es wäre steingewordene Liebe.
    Matti hatte immer für die Liebe sterben wollen. Nun war er für die Liebe gestorben. Nicht für seine eigene. Für die Liebe von Jari und Jascha. Wie stolz er ausgesehen hatte, in seinem

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