Solange du schläfst
Gestalt kam näher und nun konnte Jérôme auch deren Gesicht erkennen. Er wich einen Schritt zurück. Das Mädchen war verschwunden. Ohne zu zögern, holte sein Gegenüber zum Schlag aus, doch Jérôme wich zurück.
Er wollte fliehen. Doch gleichzeitig machte sich eine ungeheuerliche Wut in ihm breit und der unbändige Wille zu kämpfen.
Ich lag auf dem Bett und wollte mich entspannen.
Man muss sich darauf einlassen
, hatte Sabine zu mir im Krankenhaus gesagt.
Man muss es nur zulassen
…
Zulassen? Wie soll das gehen?, fragte ich mich. Verbissen bemühte ich mich, an nichts zu denken und den Kopf freizukriegen. Einatmen, ausatmen, es zulassen …
Doch je mehr ich es versuchte, desto wilder sprangen meine Gedanken hin und her.
Das Gespräch mit den Kommissaren, Jérôme auf der Intensivstation, die vielen blinkenden und piependen Geräte um ihn herum und dazwischen immer wieder Konstantin, wie er mich angegrinst und bedroht hatte.
»Keine Chance«, seufzte ich schließlich und setzte mich auf.
Die Luft im Zimmer war stickig. Ich ging zum Fenster, um es zu öffnen, doch mitten in der Bewegung kam mir plötzlich ein Gedanke: Vielleicht brauchte es einen bestimmten Ort, damit ich mit Jérôme in Kontakt treten konnte? Einen Ort, an dem wir uns sehr nahe waren?
Ich atmete tief durch. Die stickige Luft im Zimmer, mein Chaos im Kopf, ich musste einfach raus. Etwas an der frischen Luft sein, um wieder klarer denken zu können. Um runterzukommen …
Als ich die letzten, vorsichtigen Schritte zwischen den Bäumen hindurch machte und vor der Lichtung stand, wusste ich, warum ich erneut hierhergekommen war. Plötzlich erschien mir alles ganz logisch.
»Jérôme?«, flüsterte ich. »Bist du da?«
Langsam ließ ich mich auf dem feuchten Boden nieder und schloss die Augen. Ganz ruhig atmete ich ein und aus – und wartete.
Ein kühler Windhauch wehte heran und ließ mich frösteln. Ihm folgte augenblicklich eine eisige Bö, die das frische Laub aufwirbelte und durch die Bäume fuhr. Schon klatschte ein dicker Regentropfen auf meinen Arm. Ich blickte zum Himmel und sah, dass er sich dunkel zugezogen hatte.
Ich erhob mich und schlang schützend die Arme um meinen Körper. Eine erneute Windbö ließ die Bäume um mich herum aufächzen. Ein abgestorbener Ast krachte zu Boden und ich zuckte erschrocken zusammen. Gerade wollte ich umkehren und nach Hause laufen, als ich eine Stimme hörte. Eine Stimme in meinem Kopf!
Hilfe! Bitte hilf mir doch
.
Von einem Moment auf den anderen begann es, in Strömen zu regnen. Der Wind peitschte die Regentropfen durch die Bäume vor sich her. Innerhalb von wenigen Minuten war ich nass bis auf die Haut.
Plötzlich spürte ich einen Schmerz. Einen entsetzlichen Druck direkt hinter den Augen. Als ob jemand von innen dagegendrücken würde.
Halt ihn auf. Tu doch was. Du musst ihn aufhalten
.
Blitzartig schossen Bilder durch meinen Kopf. Kurze Szenen, die ich nicht zuordnen konnte, die aber eindeutig nicht meiner Erinnerung entstammten. Nachtschwarze Dunkelheit, blonde Haare, die angstvoll aufgerissenen Augen eines Mädchens.
Hilf mir doch
.
In meinem Kopf dröhnte es. Das Wasser lief mir in Strömen über das Gesicht, nasse Strähnen klebten auf meiner Stirn.
Ein Blitz zuckte über den Himmel, tauchte ihn für den Bruchteil einer Sekunde in ein kaltes Licht. Das darauffolgende Krachen ließ mich vor Schreck aufschreien.
Nimm deine dreckigen Finger von meiner Frau!
Zwischen den Bäumen konnte ich eine dunkle Silhouette ausmachen.
»Wer ist das, Jérôme?«, keuchte ich verzweifelt.
Erneut tauchte ein Blitz die Lichtung in ein beängstigendes, grelles Licht. Keine drei Sekunden später donnerte es gewaltig. Das Gewitter war jetzt direkt über mir.
Ich zitterte am ganzen Körper, kämpfte gegen den Schwindel an, der mich zu überwältigen drohte. Ich legte die Hände trichterförmig um den Mund und schrie aus Leibeskräften: »JÉRÔME! KOMM ZU MIR ZURÜCK! LASS MICH NICHT ALLEIN!«
24.
»Anna, da bist du ja!«, rief meine Mutter, kaum dass ich die Haustür geöffnet hatte. »Wo warst du denn? Du bist ja nass bis auf die Knochen!«
»Ich brauchte ein bisschen frische Luft«, murmelte ich und wollte mich an ihr vorbeischieben.
»Geh schnell duschen und zieh dir was Trockenes an, Schatz«, sagte Claudia. »Ach übrigens, Jérômes Mutter hat angerufen und bat darum, dass du sie zurückrufst. Sie ist im Krankenhaus. Du kannst sie auf dem Handy erreichen.«
Sofort war ich
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