Solange du schläfst
einmal nach mir umzusehen, verschwand er im Auto, startete den Motor und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Fassungslos starrte ich ihm nach. Ich wollte ihm etwas hinterherschreien, ihm nachlaufen und ihn aus seinem beschissenen Protzauto zerren.
Doch dazu fehlte mir die Kraft. Benommen schloss ich die Augen und legte meine Stirn auf den kühlen Asphalt.
Ein seltsames Gefühl durchdrang Jérôme und riss ihn an die Oberfläche seines Bewusstseins zurück. Sein Herz raste und das Blut pulsierte im schnellen Rhythmus durch seine Adern.
Dann fühlte es sich mit einem Mal so an, als ob er keine Luft mehr bekäme. Irgendetwas schnürte ihm die Kehle ab und er hörte dieses grässliche Röcheln in seinem Kopf. Sein ganzer Körper war davon erfüllt.
Schließlich wurde ihm klar, dass nicht er es war, der nach Luft rang, dass nicht seine Kehle wie zugeschnürt war. Es war Annas! Er konnte ihre Angst riechen. Sah verschwommene Bildfetzen vorbeifliegen.
Im nächsten Moment wich jegliche Anspannung aus seinem Körper. Er hörte eine Autotür zuschlagen, quietschende Reifen. Fühlte Anna am Boden liegen, die Stirn auf dem kühlen Asphalt.
In der Dunkelheit streckte er die Hände nach ihr aus, um sie zu beschützen, sie zu trösten.
»Anna, alles wird gut«, sagte er.
Dann herrschten wieder Stille und Finsternis …
25.
Schweigend saß ich am Frühstückstisch und kaute lustlos auf meinem Toast herum. Meine Mutter schaute gedankenverloren aus dem Fenster.
Ich war froh, dass sie nicht auf die Idee kam, mich über den gestrigen Abend auszuquetschen. Mir hatte schon gereicht, wie entsetzt Jérômes Mutter mich angestarrt hatte, als ich nach meinem Aufeinandertreffen mit Konstantin vor Reinekes Haustür stand. So als hätte sie einen Alien vor sich gehabt. Nur mit Müh und Not hatte ich sie davon abbringen können, die Polizei zu alarmieren.
»Hast du Halsschmerzen?«, fragte meine Mutter und musterte den dünnen Schal, den ich mir umgewickelt hatte.
»Ein bisschen,« sagte ich und hoffte, sie würde nicht die rötlich-blauen Würgemale bemerken, die sich darunter verbargen.
»Ich hab dir doch gesagt, dass du dich erkälten wirst«, meckerte sie. »Aber du wolltest ja mal wieder nicht hören.«
»Es ist nicht so schlimm, nur ein bisschen Halskratzen«, winkte ich ab und zu meiner Überraschung gab sie sich damitzufrieden. Offensichtlich hatte nicht nur ich schlechte Laune.
Den Schulvormittag brachte ich irgendwie hinter mich. Ich war nur körperlich anwesend. Meine Gedanken kreisten die ganze Zeit um Jérôme und um den Plan, den ich gestern Abend entwickelt hatte und der nun langsam in meinem Kopf Gestalt annahm.
Ich würde Konstantin nicht so einfach davonkommen lassen. Ich würde aufdecken, was für ein mieser Heuchler er war. Der würde sich noch wundern!
Endlich klingelte es zum Ende des Unterrichts. Ich ging zum Bahnhof und wartete auf den Zug Richtung Bremen. Mein Vater wollte heute früher Schluss machen und würde mich anschließend mit nach Hause nehmen. So musste meine Mutter mich nicht schon wieder ins Krankenhaus bringen und konnte in Ruhe an ihrem Buch arbeiten.
Als der Zug losfuhr, kribbelte es aufgeregt in meinem Bauch. Ich konnte es kaum erwarten, Jérôme von meinem Vorhaben zu erzählen.
Jérôme spürte etwas wunderbar Weiches auf seiner Haut.
»Jérôme, hörst du mich? Ich bin es, Anna.«
Ja, wollte Jérôme rufen. Ja, ich höre dich. Jetzt höre ich dich ganz deutlich.
Er wollte seine Arme nach ihr ausstrecken, sie berühren, sie ganz fest an sich drücken. Und er verfluchte diese Starre, die ihn gefangen hielt, seinen Körper, der ihm nicht mehr gehorchen wollte.
Wieder strich etwas über seine Wange und der Atemhauch eines Flüsterns umspielte sein Ohr.
»Du wirst gesund. Ganz bestimmt. Ich glaube daran und du musst kämpfen … Nicht aufgeben … hörst … bin bei d…«
Er spürte ihre Hand auf seiner.
»Jérôme, ich …«
So sehr Jérôme auch dagegen ankämpfte, sein Geist schweifte ab, drohte sich ins Nichts zu verflüchtigen.
Einen Moment herrschte Stille, und er dachte schon, er hätte sie verloren. Doch dann drang ihre Stimme wie aus weiter Ferne zu ihm durch.
Sie redete von einem Plan. Und sie schien ihm unbedingt etwas versprechen zu wollen. Es hatte mit Konstantin zu tun und einem Mädchen mit blonden Haaren.
Was redest du da, Anna? Was hast du vor?, dachte Jérôme alarmiert.
Dann hörte er sie plötzlich wieder ganz deutlich. Wort für Wort.
»Ich weiß,
Weitere Kostenlose Bücher