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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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die erste Kurzwahltaste links betätigt.
    »Liebes, ich arbeite«, sagte er nicht minder ernst. Er hätte genauso gut sagen können, dass er noch schlafe, doch glaubte er die Schuldgefühle, die er beim Klang ihrer Stimme empfand, nur mit einer Lüge beschwichtigen zu können. Viele Gespräche mit seiner drei Jahre alten Tochter erinnerten ihn an Auseinandersetzungen mit allen möglichen Frauen, in deren Verlauf er unglaubwürdige Erklärungen abgegeben, Rückzieher gemacht oder Ausreden erfunden hatte und doch immer durchschaut worden war.
    »Du bist im Bett, deine Stimme krächzt.«
    »Ich lese im Bett. Und was machst du? Wie sieht's bei dir aus?«
    Er hörte, wie sie - ihre kleine Zunge dagegengepresst - geräuschvoll die Luft zwischen ihren Milchzähnen einsog, während sie überlegte, was um sie her in ihr jüngst erworbenes sprachliches Netz gehen könnte. Vermutlich war sie neben oder auf dem Sofa, hatte das große helle Fenster vor sich und den belaubten Kirschbaum, sah die Schale mit den schweren Steinen, die sie so mochte, die Moore-Statuette, die blassen Farben der sonnenhellen Wände und die langen geraden Linien der Eichendielen.
    Schließlich sagte sie: »Warum kommst du nicht in mein Haus?«
    »Liebes, ich bin viele tausend Meilen weg.«
    »Wenn du gehen kannst, kannst du kommen.«
    Eine bestechende Logik. Als er ihr gerade erklären wollte, dass er sie bald besuchen werde, unterbrach sie ihn mit der fröhlichen Ankündigung: »Ich gehe jetzt zu Mummy ins Bett. Tschüss.« Und schon hatte sie aufgelegt.
    Beard legte sich auf den Rücken, schloss die Augen und versuchte sich die Welt aus der Sicht seiner Tochter vorzu stellen. Von Zeit, Zeitzonen und physischer Entfernung hatte sie noch keine Vorstellung, doch sie hatte ein Gerät, dessen wunderliche Eigenschaften sie für selbstverständlich hielt. Ein Tastendruck genügte, und schon konnte sie mit ihrem körperlosen Vater sprechen - wie auf einer Seance mit dem Geist eines Toten, einer Gestalt aus einer anderen Welt. Manchmal konnte sie ihn leibhaftig herbeizitieren, meist jedoch nicht. Wenn er mal auftauchte, brachte er immer ein Geschenk mit, unbeholfen in irgendeinem Flughafen ausgesucht, nicht selten unpassend - ein Paket mit zwölf Regenbogen-T-Shirts, die ihr zu klein waren, ein Stofftier, für das sie sich schon zu alt fühlte, was sie aber netterweise nicht sagte, ein elektronisches Spielzeug, mit dem sie nichts anfangen konnte, eine Schachtel Likörpralinen, die er auf einen Satz allein aufessen musste. Melissa versuchte ihm auszureden, Geschenke mitzubringen - »Sie will dich « - -, aber gegen seine lebenslange Gewohnheit, Mädchen mit schön verpackten Überraschungen zu besänftigen, kam Beard einfach nicht an. Ohne Geschenk fühlte er sich nackt, blanken, unvorhersehbaren Forderungen ausgesetzt, außerstande, für seine Abwesenheit Wiedergutmachung zu leisten, in die unbehagliche Rolle gedrängt, sich einbringen zu müssen.
    Selbst mit ihren drei Jahren nahm Catriona Rücksicht auf die Gefühle des edlen Spenders, wenn sie ein Geschenk auspackte. Wie konnte ein so junges Bewusstsein so empfindliche Antennen haben? Sie wollte ihren Vater nicht enttäuschen. Die T-Shirts, versicherte sie ihm, seien nicht umsonst, sondern für ihren kleinen Bruder, ein zartes Wesen, dessen Eintreffen sie mit beunruhigender Zuversicht erwartete. Sie war zutraulich, gesellig und beinahe besorgniserregend sensibel. Machte jemand eine beiläufige Bemerkung und sie vernahm darin einen Ton, ein Heben der Stimme, das sie als Kritik oder Tadel auffasste, reagierte sie mit Tränen und Entsetzen und war oft kaum noch zu beruhigen. Manchmal schien es, als erlebe sie die Gedanken eines anderen wie ein Kraftfeld, dessen Energien über ihr zusammenschlugen wie die Brandung des Atlantiks. Diese Wahrnehmungsgabe war Fluch und Segen zugleich. Catriona war klug und vertrauensvoll, fröhlich und scharfsinnig, aber ihre emotionale Empfindsamkeit machte sie verletzlich und beunruhigte ihren Vater. Einmal hatte sie auf eine harmlose Bemerkung von ihm, eine sanfte Bekundung von Ungeduld, mit einem so heftigen Ausbruch reagiert, dass ihre Mutter ins Zimmer gestürzt war und sie in die Arme genommen hatte. Es machte ihm keinen Spaß, als Schuft hingestellt zu werden, aber es entsprach auch nicht seinem Wesen, den ganzen Tag lang feinfühlig zu sein.
    Wäre er mit einem dickköpfigen, ruppigen Sohn besser dran gewesen? Wahrscheinlich nicht. Was ihn an Catriona band - soweit ihn

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