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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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überhaupt etwas an irgendjemanden binden konnte -, war ihre Beharrlichkeit, ihre bedingungslose, unhinterfragte Liebe. Für sie war die Sache einfach. Er war ihr Vater, und sie wollte ihn für sich haben. Sie hatte verstanden, es war seine Aufgabe, die Welt zu retten, und da die Welt aus ihrer Mutter, Primrose Hill, dem Tanzshop und ihrer Spielgruppe bestand, war sie ungeheuer stolz auf ihn. Melissa konnte lange behaupten, er müsse die Vaterrolle nicht ausfüllen. Catriona würde niemals zulassen, dass er sich absetzte. Es war ihr gleichgültig, ja es fiel ihr nicht einmal auf, dass er klein, dick und nicht sehr nett war und ein Dreifachkinn hatte, sie liebte ihn, er gehörte ihr. Sie kannte ihre Rechte. Auch das bereitete ihm Schuldgefühle, auch deswegen brachte er ihr Geschenke mit: nur um sie davon abzuhalten, sich an seinen Bauch zu werfen, sobald er zur Tür hereinkam, auf seinen Schoß zu klettern und ihm Kleinmädchengeheimnisse ins Ohr zu flüstern, kaum dass er von einer anstrengenden Reise zurückgekommen war. Wie seinem eigenen Vater fiel es Beard nicht leicht, einem Kind gegenüber körperliche Zuneigung zu zeigen. Catriona hingegen war wie ihre Mutter zu einseitiger Liebe bereit und bemerkte seine Zurückhaltung nicht.
    Kurz, er war ein unentschlossener Vater und Liebhaber, der sich auf seine Familie weder festlegte noch sie anständig im Stich ließ. Er klammerte sich aus Gewohnheit an eine jugendliche Vorstellung von Unabhängigkeit, die für einen Mann von fast zweiundsechzig Jahren ungewöhnlich war. Wenn er nach London zurückkam, verkroch er sich oft erst einmal für mindestens zwei, drei Nächte in seiner Wohnung am Dorset Square, bis der Schmutz und die unhaltbaren Zustände ihn daraus vertrieben. Gelblich grauer Schimmel blühte in der Küche entlang der Kante zwischen Wand und Decke. Eine Regenrinne, die theoretisch einem Nachbarn gehörte, war geborsten, und Regenwasser sickerte durch das Mauerwerk. Doch Beard wollte sich weder mit dem streitsüchtigen, halbtauben Mann über ihm anlegen, noch wollte er das mit einer gründlichen Instandsetzung verbundene Abhämmern und Neuverputzen, den ganzen Lärm und Wirbel heraufbeschwören. Im Flur war ständig das Licht kaputt, sooft er auch die Glühbirne wechselte. Sobald er den Schalter betätigte, knallte sie durch. Das kalte Wasser in seinem Badezimmer war seit langem versiegt. Zum Rasieren ließ er Warmwasser in einem dünnen Rinnsal laufen und sah zu, dass er fertig war, bevor es brühend heiß wurde. Wollte er ein Bad nehmen, ließ er Wasser ein und es dann stundenlang abkühlen. Diese und andere kleine Probleme wären aufwendig zu lösen, daher improvisierte er lieber. Eine große Vase im Gästezimmer fing die Regentropfen auf, ein eiserner Fußabtreter hielt die Kühlschranktür zu, ein zerfranstes, schmuddliges Stück Schnur ersetzte die Kette am altersschwachen Spülkasten im Klo.
    Nichts zu machen war allerdings bei dem verfilzten, klebrigen Teppichboden, der nicht mehr gesaugt worden war, seit seine letzte Putzfrau vor sechs Jahren das Weite gesucht hatte. Das Gleiche galt für die Stapel unsortierter Unterlagen, Briefe, Reklamepost und Fachzeitschriften, die Kisten mit leeren Flaschen, das stinkende Sofa und den Schmutz, der schier in der Luft zu hängen schien und sich über sämtliche Möbel, Teller, Tassen und Bettbezüge gelegt hatte. Er redete sich immer wieder ein, die Wohnung sei zwar vergammelt, aber doch eine Art Büro, der Ort, wo er Tom Aldous' Akte geknackt und der eigenen Karriere zu neuem Schwung verholten hatte. In Primrose Hill wollten Melissa und Catriona mit ihm reden, wohingegen er sich hier im Schoß der Verwahrlosung hinlümmeln und ungestört lesen konnte. Aber auch das ging nicht immer, weil seine Knöchel juckten. Denn es gab mittlerweile auch Flöhe. Doch um die Wohnung wohnlich zu machen, war so viel zu tun, dass es sich nicht zu lohnen schien, damit auch nur anzufangen. Wozu die Bude aufpolieren, wozu auch nur die verstaubten Whisky- und Ginflaschen raustragen und die toten Fliegen und Spinnen aufsammeln, wenn er jederzeit bei Melissa einziehen konnte?
    Vor vielen Jahren, nach der Trennung von Patrice, hatte er sich dieses Loch als Zwischenstopp auf seinem Weg zu einer asketischen, lichtdurchfluteten Bleibe vorgestellt, einer Bleibe, so unschuldig rein wie das Paradies, geläutert von Chaos und Ablenkung, wo ein freier und offener Geist ungehindert wirken könnte. Wenn er sich hingegen in seiner durch die

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