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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ihm entfernt und mit einem Schutzgehäuse umgeben, in das einzudringen er wie sie wusste - sich nie die Mühe machen würde. Sie hatte jetzt etwas Großartiges für sich allein und fand es die Anstrengung nicht wert, ihn daran teilhaben zu lassen, weil er es ohnehin nicht verstehen würde. Sie freute sich immer, ihn zu sehen, im Bett war sie zügellos wie in alten Zeiten, sie unterstützte seine Bemühungen um Catriona und bügelte ihm die Hemden. Er wiederum steuerte fünfundzwanzigtausend Pfund im Jahr für den Haushalt bei, was ihr mehr als ausreichend schien. Doch ihm blieb der Verdacht, dass Melissa ebenso gut ohne sein Geld auskam und sich ebenso glücklich fühlte, wenn er nicht da war.
    Haarklein hielt sie sich an das, was sie während der hitzigen Debatten über ihre Schwangerschaft mehrfach versprochen hatte: Sie hatte seinen Argumenten für eine Abtreibung kein Gehör geschenkt, ergo erwartete sie auch keine Gegenleistung. Und er? Er hätte nie gedacht, wie sehr er sich selbst treu bleiben würde, wie unwandelbar er war. Er hatte sich mit einer Frau in Lordsburg angefreundet, einer Kellnerin namens Darlene, die in einem Wohnwagen am Südrand des Ortes lebte, an der Straße, die zu der Geisterstadt Shakespeare führte. Darlene war keine echte Schönheit und besaß nicht entfernt Melissas Klasse, aber auch Beard machte nicht mehr viel her mit seinem Watschelgang und den dicken Wülsten unterm Kinn, deren unterster dem Kehllappen eines Truthahns glich und hin und her schwabbelte, wenn er den Kopf schüttelte. Lud er Frauen, die er nicht kannte, zum Essen ein, lachten sie, bevor sie nein sagten.
    Darlene aber hatte ja gesagt. Außerdem war sie gutmütig, humorvoll, lustig und trank gern einen. Bei seinem letzten Aufenthalt in Lordsburg hatten sie sich in ihrem Wohnwagen gemeinsam volllaufen lassen, und in der Berauschtheit hatte er versprochen, sie zu heiraten. Im Bett war ihm das herausgerutscht, es galt nicht, war bloßer Ausdruck seiner Erregung gewesen. Um die Szene zu vermeiden, die sein Widerruf garantiert nach sich gezogen hätte, betrank er sich am nächsten Abend wieder mit ihr, diesmal in einer Bar im Norden der Stadt, und um ein Haar hätte er ihr dort einen zweiten Heiratsantrag gemacht. Das alles hieß aber nur, dass er sie mochte. Er war gern mit ihr zusammen, sie war ein guter, zuverlässiger Kumpel. Zurzeit aber vergrößerte sie das Durcheinander in seinem Leben, weil sie unbedingt nach England kommen wollte.
    Überraschend war, dass sich seine Existenz seit Catrionas Geburt kaum verändert hatte. Seine Freunde hatten ihm prophezeit, er werde noch staunen, er werde wie verwandelt sein, alle seine Werte auf den Kopf gestellt. Nichts war verwandelt. Catriona hin oder her, das Chaos war immer noch dasselbe. Jetzt erst, angesichts seiner letzten aktiven Phase, begann er zu begreifen, dass das Leben - von Unfällen einmal abgesehen - sich immer gleich blieb. Es war ein Trugschluss, anzunehmen, er erreiche irgendwann einen Punkt, eine Art Plateau, wo er alle Fähigkeiten, zurechtzukommen, beherrschte und einfach vor sich hin leben könnte. Alle Briefe und E-Mails beantwortet, alle Papiere sortiert, die Bücher alphabetisch geordnet im Regal, Kleider und Schuhe in gutem Zustand in den Schränken, alle seine Sachen dort, wo sie hingehörten, die Vergangenheit - einschließlich Briefen und Fotos - in Schachteln und Alben, das Privatleben ruhig und heiter, Haus und Finanzen in Ordnung. Dieser Ruhepunkt, dieses Plateau, war sein Leben lang nie in Sicht geraten, und doch hatte er immer, ohne groß darüber nachzudenken, angenommen, noch ein kleiner Endspurt, und schon sei es so weit, er nun endlich richtig erwachsen, sein Leben wohlgeordnet und sein Geist frei. Kurz nach Catrionas Geburt, etwa zu der Zeit, als er Darlene kennenlernte, dämmerte ihm die Wahrheit: Noch an seinem Todestag würde er zwei verschiedene Socken tragen, E-Mails blieben unbeantwortet zurück, und in dem Loch, das er sein Zuhause nannte, gäbe es immer noch Hemden mit fehlenden Manschettenknöpfen, ein defektes Licht im Flur und unbezahlte Rechnungen, einen unaufgeräumten Dachboden, tote Fliegen, es gäbe Freunde, die auf Antwort warteten, und Geliebte, zu denen er sich nicht bekannt hatte. Das Vergessen hatte das letzte Wort in Sachen Organisation, dies wäre sein einziger Trost.
    Sein letzter Abend in London, vor gerade mal dreißig Stunden, wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, um sich endgültig mit seiner kleinen Familie

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