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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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jetzt verpissen Sie sich.«
    Beard stutzte, das hatte gesessen, und in dieser kleinen Pause ging ihm auf, was er wirklich wollte, nein, was er jeden Moment vorhatte: Tarpin einen derben Tritt ans nackte Schienbein versetzen, so fest, dass der Knochen brach. Die Aussicht erregte ihn und ließ sein Herz schneller schlagen. Er konnte sich nicht erinnern, ob das jetzt die Stiefel mit den Stahlspitzen waren oder ob er die schon vor langer Zeit weggeworfen hatte. Egal. Schon seltsam, dass der Mann, auf den er früher ziemlich unbegründet herabgesehen hatte - als einen, der mit seinen Bohrern, seinem unmelodischen Pfeifen, seinem ewigen Staubaufwirbeln und dem Geplärre eines blechernen Radios in sein häusliches Reich eingedrungen war -, dass dieser Tagelöhner ihm jetzt in einem fairen Kampf von Gleich zu Gleich gegenüberstand. Nun ja, mehr oder weniger fair. Seine Kollegen hatten im Lauf der Jahre und manchmal zu ihrem Leidwesen erfahren müssen, dass Beard, sei es Segen oder Fluch, sich bei Auseinandersetzungen - in denen es naturgemäß meist um Physik ging - sehr rabiat durchsetzen konnte.
    »Sie haben meine Frau geschlagen«, sagte er. Sein rasender Puls ließ seine Stimmbänder flattern.
    Er hatte bereits einen Blick nach unten riskiert und Tar pins Schienbein gesehen, bleich mit einzelnen Büscheln schwarzer Härchen wie ein schlechtgerupfter Truthahn. Jetzt verlagerte er, der seinerzeit trotz seiner geringen Größe ein ganz guter Sportler gewesen war, sein Gewicht auf den linken Fuß. Er durfte nicht vergessen, die Arme auszubreiten, um die Balance zu halten, und falls noch Zeit blieb, könnte er eine halbe Drehung machen und Tarpin mit dem Absatz einen Zeh zertrümmern.
    Nur übersah er dabei, wie auffällig er sich zu der Attacke anschickte. Seine gewölbte Brust bebte mächtig, seine dünnen Arme zuckten hoch, die unbewusst angespannten Gesichtsmuskeln verrieten den ganzen aufregenden Plan. Und sein Gegner war offenbar auch noch als Erwachsener ein erprobter Schläger. Bevor Beard sich wegducken konnte, hatte Tarpin seinen Arm gepackt und ihm eine saftige Ohrfeige auf die rechte Wange verpasst. Plötzlich sah Beard Sterne, und noch Sekunden danach war die Welt nichts als ein dröhnendes weißes Loch. Als er wieder sehen konnte, stand Tarpin immer noch vor ihm und hielt das Handtuch fest, das sich gelockert hatte.
    »Das nächste Mal tut's weh«, sagte er.
    So pflegten altmodische Filmhelden die Frau, die sie liebten, auf den Teppich zu holen. Diesem Bauhandwerker war Beard nicht mal einen richtigen Faustschlag wert. Tarpin hatte bestimmt noch mehr in petto. Zum Glück drangen in diesem Augenblick von nebenan Kinderstimmen zu ihnen herüber, lautes Flüstern und unterdrücktes Kichern, das sich auf den Anblick des fast nackten dicken Nachbarn bezog. Über den Zaun spähten aus unterschiedlicher Höhe drei weit aufgerissene braune Augenpaare aus schüchternen Gesichtern. Tarpin hastete ins Haus. Vielleicht wollte er ein größeres Handtuch oder einen Mantel holen - eine gute Gelegenheit für Beard, sich zu verdrücken. Doch er hatte seinen Stolz und wollte den Eindruck vermeiden, dass er es eilig habe. Das Boot wiegte sich auf seinem Ständer, als er an der am Boden liegenden Telefonzelle vorbei die Einfahrt hinunterging. Sein Gesicht brannte in der kalten Luft - die Ohrfeige hatte wirklich weh getan -, er hatte einen Pfeifton im Ohr, ein elektronisches Fiepen, und als er sein Auto erreichte, war er benommen und halb taub. Er ließ den Motor an und blickte zum Haus zurück, aus dem jetzt Tarpin in Trainingsanzug und Turnschuhen mit wehenden Schnürbändern festen Schrittes auf ihn zukam. Beard sah keinen vernünftigen Grund, noch länger in Cricklewood zu verweilen.

    In den letzten drei Wochen dieses Jahres gerieten die Dinge in Bewegung. Er bekam eine Einladung zum Nordpol - so jedenfalls nannte er es sich selbst und allen anderen gegenüber. Genau genommen lag das Reiseziel ein gutes Stück südlich des achtzigsten Breitengrades. Die Broschüre pries seine Unterkunft als »exquisit eingerichtetes, komfortabel beheiztes Schiff mit eichengetäfelten Korridoren, ausgestattet mit dicken Teppichen und Wandlampen mit Seidenfransen«; das Schiff lag behaglich eingefroren in einem relativ abgelegenen Fjord nördlich von Longyearbyen auf der Insel Spitzbergen und war nur per Motorschlitten erreichbar. Die Sache hatte drei Schönheitsfehler: Die Kabinen waren winzig, man kam nur zu bestimmten Zeiten an seine E-Mails

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