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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Häuser an der Park Lane und Old Kent Road, an denen man das Wohlstandsgefälle beobachten konnte. In den Park-Lane-Häusern der Reichen von Mayfair gab es Wandteppiche, Holzschnitte von Dürer und leere Champagnerflaschen, bei den armen Bewohnern der Old Kent Road im East End dagegen Hamburger-Schachteln, Heroinspritzen und Fernseher, in denen ununterbrochen Seifenopern liefen. Die Würfel waren zwei Meter groß, die Gemeinschaftskarten wurden mit einem Kran angeliefert, die eselsohrigen Banknoten aus Sperrholz waren zu fünfundzwanzig Meter hohen wackligen Stapeln aufgetürmt. Das Ganze wurde als Anklage gegen eine vom Geld besessene Kultur interpretiert. Gehe Nicht Über Los wurde gepriesen und verunglimpft und von Passagieren beim Anflug auf Heathrow aus der Luft fotografiert. Kinder trampelten scharenweise auf dem Brett herum und krochen unter die hohlen Spielsteine. Die Hersteller des Spiels reichten Klage ein, zogen diese jedoch angesichts öffentlichen Spotts und steigender Verkaufszahlen wieder zurück. Eine Vereinigung der Ladenbesitzer aus der Old Kent Road zog ebenfalls vor Gericht, oder kündigte das jedenfalls an, aber auch das blieb folgenlos.
    Im Geiste überstrahlte Polkinghornes Lächeln Beards melancholische Betrachtungen über das Ende seiner Ehe. Er badete in einer wohltuenden Mischung aus Trauer, Zorn, Sehnsucht (nach den anfänglichen Wonnen) und wohliger Nachsicht gegenüber dem eigenen Scheitern. Wieder einmal. Fünf waren endgültig genug. Er würde das nie mehr auf sich nehmen - und mit diesem Gedanken kam das Bewusstsein seiner wiedergewonnenen Freiheit zurück. Wenn alles geregelt war, würde er sich eine kleine Wohnung in London kaufen; dort wäre er ganz auf sich gestellt, würde eisern seine Unabhängigkeit verteidigen und diese hartnäckige Angewohnheit, ständig heiraten zu müssen, endgültig ablegen. Er brauchte keine Ehefrauen, sondern eine Geliebte, oder mehrere.
    Teilnahmslos ließ er sich nach Oslo und von dort nach Trondheim verfrachten. Der Weiterflug nach Longyearbyen verzögerte sich um zweieinhalb Stunden; in einem Schalensessel las er in der Zwischenzeit voll konzentriert die Herald Tribune, ohne sich irgendetwas zu merken. Es war drei Uhr morgens, als sein Taxi neben gewaltigen Schneemassen vor dem Hotel hielt. Er hatte seit Stunden nichts gegessen. In Pullover, Anorak und langen Unterhosen legte er sich auf das an drei Seiten von mächtigen Holzbalken umschlossene Bett, aß sämtliche salzigen Snacks aus der Minibar, dann alle süßen, und als er um acht von der Rezeption geweckt wurde und erfuhr, dass die anderen unten schon alle auf ihn warteten, hielt er noch die zerknüllte Verpackung eines Marsriegels in der Faust.
    Als Erstes musste er seinen Durst löschen, aber das Wasser aus dem Hahn über seinem Waschbecken war so kalt, dass es ihm auf den Lippen brannte. Er trank so gierig, dass er davon ein Stechen im Gesicht und an den Schläfen bekam, das auch noch da war, als er, von Schlafmangel wie betäubt, mit seinem Gepäck nach unten ging, um seine Reisegefährten zu treffen - die schon gefrühstückt hatten und jetzt frisch-fröhlich in die für sie bereitliegenden Kälteschutzanzüge stiegen. Im trüben, von Sonnenenergie erzeugten Licht des Foyers und im Geschiebe viel zu dick eingemummter Leiber sah er keine Spur von Stella Polkinghorne. Ja, das kannte er von früher, die manische Ausgelassenheit der Engländer, sobald sie sich zu größeren Gruppen zusammenfanden. Aus verschiedenen Ecken ertönte vereinzeltes Auflachen und einstimmiges Kichern. Und das morgens um zwanzig nach acht. Tapfer überspielte er seine Beklommenheit, zwang sich zu einem Lächeln, schüttelte viele Hände und bekam viele Namen zu hören, von denen er keinen einzigen behielt, in Gedanken bei dem Kaffee, den er nicht mehr bekommen würde. Wie sollte er so den Tag beginnen? Die Kanne in der Maschine war leer, der Frühstückstisch wurde bereits von einem Mädchen abgeräumt, das kein Wort Englisch sprach und nicht einmal das planetenweit bekannte und von ihm laut und deutlich artikulierte Wort »coffee« verstand, und jetzt erklärte ihm Jan, einer der Organisatoren und ein Elch von einem Mann, für Kaffee sei es ohnehin zu spät, führte ihn zu dem eigens für ihn bestimmten Stapel Kälteschutzbekleidung und meinte, er solle sich beeilen, man erwarte in den nächsten zwei Stunden einen Schneesturm, die Gruppe müsse schleunigst aufbrechen.
    Die anderen gingen schon ins Freie, und er war

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