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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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zeigte er Verständnis. »Pass auf.«
    Er klappte ein dünnes Blech hoch und klemmte Beards Schutzbrille über den warmen Motor. Sie standen auf einer gut dreihundert Meter breiten Landzunge, zwischen zwei Seen, vielleicht war es auch eine Bucht, vielleicht war das Meer nicht mehr weit; Beard war es zu kalt, um sich danach zu erkundigen. Der endlose Schnee glühte orangefarben in der Morgensonne, die Fahrspur vor ihnen lief schnurgerade auf eine viele Kilometer entfernte niedrige Bergkette zu, über der oder hinter der eine schwarze Wolkenwurst schwebte. Er hätte, während sie warteten, beiseitetreten und sich erleichtern können, aber jetzt blies der Wind noch heftiger, und eigentlich musste er gar nicht mehr so dringend. Er fand es unglaublich, geradezu kriminell, dass die Bewohner von Spitzbergen es für vernünftig hielten, in einem solchen Klima ein offenes Gefährt zu benutzen, wo ein menschenfreundliches Fahrzeug mit Heizung, anständiger Windschutzscheibe und Rückenlehne - ein Auto! das eine oder andere Leben retten könnte. Seine Entrüstung lenkte ihn vorübergehend ab; erst als er wieder mit seiner enteisten Brille im Sattel saß und aufs Neue dem brüllenden Wind entgegenfuhr, erkannte er, dass er an einem Punkt angelangt war, wo er keine Sekunde mehr zu verlieren hatte: Entweder hielt er jetzt an und pinkelte, oder ihm platzte die Blase, mit der Folge, dass er an einer Infektion sterben würde, oder er machte sich nass und erfror in durchnässter Kleidung. Dennoch fuhr er weiter. Sie hatten schätzungsweise noch hundert Kilometer vor sich, und er fuhr mit vierzig Stundenkilometern. Zweieinhalb Stunden. Vollkommen ausgeschlossen.
    Aber er hielt trotzdem nicht an. Um sich abzulenken, versuchte er sich zu erinnern, wann er das letzte Mal gepinkelt hatte. Offenbar im Flughafen von Longyearbyen, während er auf sein Gepäck wartete, spätnachts, vorgestern. Seit fünfunddreißig Stunden nicht mehr gepinkelt. Einfach vergessen? War er wirklich so beschäftigt?
    Sobald ihm aufging, dass er, verwirrt von der Kälte, einen Tag zu viel berechnet hatte, bremste er scharf und flog in seinem Ungestüm beinahe aus dem Sattel. Er hörte noch, wie Jans Maschine auf seine auffuhr, hastete aber, ohne sich umzudrehen, davon. Das Gelände hier war schwierig. Der Weg führte in einer gestreckten S-Kurve durch eine Rinne, die links und rechts von zehn Meter hohen Wänden aus Fels und Eis umschlossen war. Ein letzter Rest von Anstandsgefühl zog ihn zu einer dieser Wände hin, als sei dort ein Pissoir; er kehrte dem Wind den Rücken zu, krümmte sich nach vorn und biss in den rechten Außenhandschuh. Jan rief ihm etwas zu, aber er wollte jetzt nicht in ein Gespräch verwickelt werden. Kaum hatte er den Handschuh, einen Finger nach dem anderen, mit den Zähnen von seiner Hand gezerrt, war sie auch schon gefühllos und wie gelähmt. Er brauchte über zwei Minuten, um den Reißverschluss seines Kälteschutzanzugs aufzuziehen, und stellte dann fest, dass er beide Hände benötigte, um durch die Jacke zu den Trägerschnallen seiner gesteppten Skilatzhose zu gelangen; also zog er mit seiner lahmen Rechten auch noch die linken Handschuhe aus. Wieder beschlug die Brille und fror zu. Dennoch musste er die Ruhe bewundern, mit der er sich durch seine vielschichtige Kleidung wühlte, während seine kostbare Körperwärme sich in die brutale Kälte verflüchtigte, der Wind ihm den Rücken peitschte und von der Wand in sein Gesicht zurückprallte. Erst in den allerletzten Sekunden, als seine schwerfällige rosarote Hand kalt wie die eines Fremden in seine Unterhose griff, fürchtete er die Beherrschung zu verlieren. Aber dann war es endlich so weit: Mit einem Freudenschrei, der im Heulen des Sturms unterging, richtete er den Strahl gegen die Eiswand.
    Sein Fehler war, dass er am Ende ein paar Sekunden wartete, wie Männer seines Alters es häufig tun, falls noch etwas nachtröpfelt. Er hätte sich umdrehen und hören sollen, was Jan ihm zurief. Vielleicht wäre ihm das Unvermeidliche auch nur erspart geblieben, wenn er eine der anderen Einladungen angenommen hätte, auf die Seychellen, nach Johannesburg oder San Diego, oder aber, wie er später mit einiger Verbitterung dachte, wenn der Klimawandel - der drastische Temperaturanstieg nördlich des Polarkreises - eine Realität und nicht bloß die Erfindung irgendwelcher Aktivisten wäre. Denn als er sein Geschäft erledigt hatte, klebte sein Penis am Reißverschluss des Kälteschutzanzugs

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