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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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während das Flugzeug Kurs nach Norden nahm, er seine Zeitschrift aufschlug und sich, so gut er konnte, in einen grell illustrierten Artikel über Photonen und Antimaterie vertiefte - doch schon nach fünf Minuten schlug sein Herz plötzlich höher, als er in einem Nebensatz die drei magischen Worte erblickte: Beard-Einstein-Theorem. Nicht das Bose-Einstein-Kondensat, nicht das Einstein-Podolski-Rosen-Paradoxon, nicht Einstein pur, sondern das eigentlich Wahre, jene Verschmelzung aus Einstein und Beard, und vor lauter Freude sehnte er umso heftiger den Getränkewagen herbei, der immer noch zweieinhalb Meter von ihm entfernt war. Natürlich war er sich des Glücksfalls bewusst, dass ihn der Bulldozer von einem weltberühmten Genie auf dem winzigen Vehikel seines Talents, diesem schmächtigen Dreirad, ein Stückchen hinter sich hergezogen hatte. Einstein hatte die Vorstellungen der Menschheit von Licht, Schwerkraft, Raum, Zeit, Materie und Energie auf den Kopf gestellt, er hatte das moderne Weltbild begründet, seine Stimme für die Demokratie erhoben, hatte sich zum Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Gott geäußert, war für die Atombombe eingetreten, dann dagegen, hatte Geige gespielt, gesegelt, Kinder gezeugt, das Geld vom Nobelpreis seiner ersten Frau geschenkt und einen Kühlschrank erfunden. Beard hatte nichts als sein Theorem beziehungsweise seine Hälfte davon. Wie ein Schiffbrüchiger hatte er sich an diese eine Planke geklammert und sich zu den Auserwählten gezählt. Wie war es nur so weit gekommen? Vielleicht stimmte es ja doch, und das Komitee hatte sich auf keinen der drei Spitzenkandidaten einigen können und dann eben den viertbesten genommen. Am Ende hatte man sich jedenfalls für Beard entschieden; viele meinten, es sei ohnehin mal wieder ein britischer Physiker fällig gewesen, auch wenn gewisse Kollegen hinter vorgehaltener Hand tuschelten, das Komitee habe bei seiner verzweifelten Suche nach einem Kompromiss Michael Beard mit Sir Michael Bird verwechselt, einem begabten Amateurpianisten, der sich mit Neutronenspektroskopie beschäftigte.
    Von diesen missgünstigen Gerüchten einmal abgesehen, hatte er damals im Stand der Gnade gelebt, ein paar selige Monate in dem alten Pfarrhaus in den South Downs fieberhaft mit Berechnungen und Korrekturen verbracht, belagert von den zänkischen Vorwürfen seiner ersten Frau Maisie und dem ewigen Babygeschrei der Zwillinge ihrer Mitmieter. Was für ein Kraftakt an Konzentration! So lange war das her, so schwer, sich in Erinnerung zu rufen, wie sich jene Tage anfühlten, wie seine Begeisterung. Manchmal schien es ihm, als habe er sich sein ganzes Leben lang von der Arbeit eines unbekannten jungen Mannes mitziehen lassen, eines Physikers, der von einer Klugheit und Engagiertheit war, von der er selbst nur träumen konnte. Er musste der Tatsache ins Auge sehen - dieser einundzwanzigjährige Physiker war ein Genie gewesen. Nur, wo war er abgeblieben? War er wirklich noch derselbe Michael Beard, von dessen Paper Richard Feynman so angetan gewesen war, dass er nicht mehr an sich halten konnte und die Solvay-Konferenz 1972 vor Begeisterung unterbrochen hatte? Erinnerte sich noch irgendwer, kümmerte noch irgendwen dieser denkwürdige magische Moment von Solvay? Was die kreischenden Zwillinge anging, so hatte er voriges Jahr bei der Hochzeit des einen oder anderen der beiden feststellen können, dass aus ihnen übergewichtige Mittdreißiger geworden waren, Zahnarzt der eine, Hedge-Fonds-Manager der andere, wichtigtuerisch alle beide. So alt wie das Theorem.
    Nach Drinks, Lunch und weiteren Drinks ließ er die Zeitschrift von seinem Schoß rutschen, starrte den Knopf an, an dem der Kopfstützenbezug des Vordersitzes befestigt war (er hatte keinen Fensterplatz), versank in vertraute Träumereien und wertete es als Zeichen wiederkehrender geistiger Gesundheit, dass Patrice nicht mehr deren einziges Thema war. Man hatte ihm Kurzbiographien und Fotos der anderen Besucher des zugefrorenen Fjords geschickt, und da war ihm das Lächeln einer Konzeptkünstlerin aufgefallen, deren Name, Stella Polkinghorne, sogar ihm bekannt war. Zuletzt hatte es Wirbel um sie gegeben, als ihr ein Prozess wegen Urheberrechtsverletzung drohte. Sie hatte für die Tate Gallery of Modern Art auf einer Spielwiese in Catford ein gigantisch vergrößertes Monopoly- Brett installiert, hundert mal hundert Meter, auf dem man herumspazieren konnte, gesäumt von beinahe lebensgroßen Nachbildungen der

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