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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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die auf zwei Getränkekästen in der Mitte des Raums thronte, ein in Rekordzeit entwickeltes und gebautes Modell von Tom Aldous' Quadrupelhelix-Windturbine, das demnächst nach Farnborough geschafft und im Windkanal getestet werden sollte. Manchen fiel auf, dass es sich um eine kompliziertere Version des Watson-Crick-Modells handelte, nur ohne die Basenpaare, und einige versuchten Rosalind Franklins berühmte Bemerkung zu zitieren, das Ding sei zu schön, um nicht wahr zu sein, beziehungsweise in diesem Fall zu schön, um nicht zu funktionieren. In seiner Rede ermahnte Braby das Team, für Glückwünsche sei es noch zu früh, die Arbeit habe gerade erst angefangen, dennoch sollten sie sich alle davon überzeugen können, wie weit das Projekt fortgeschritten sei und was für eine bahnbrechende Entwicklung es bedeute. Ungewohnt schwärmerisch beschwor er den Anblick einer Stadt von einem nahen Hügel aus: fünftausend Dächer mit rotierenden silbernen Turbinen, in denen sich die untergehende Sonne spiegelte, viel schöner, meinte er, als die Fernsehantennen, die das Erscheinungsbild der Städte in den fünfziger Jahren veränderten.
    Tom Aldous hielt sich die ganze Zeit über im Hintergrund und schien Beard aus dem Weg zu gehen, was ihm nur recht war, da sie beide wussten, dass das Projekt eine Sackgasse war; es wäre taktlos gewesen, wenn sie sich unter all diesen glücklichen Menschen ihr Einverständnis in diesem Punkt signalisiert hätten. Schließlich wandte Braby sich an Beard und wünschte ihm alles Gute für die achtwöchige Reise, die sicher beschwerlich und nicht ganz ungefährlich sein werde. Allen Klimamodellen zufolge, erinnerte er das Team, werde man die frühesten und drastischsten Anzeichen für die globale Erwärmung in der Arktis zu gewärtigen haben; es erfülle ihn mit Stolz, dass der Häuptling - beifälliges Kichern von allen Seiten - bereit sei, die härtesten Strapazen auf sich zu nehmen, um all das persönlich in Augenschein zu nehmen.
    Zum Schluss trat Beard für ein paar Worte nach vorn. Ihm war schleierhaft, wieso Braby behauptet hatte, dass er acht Wochen auf Reisen sein werde. Er hatte sechs Übernachtungen gebucht, hielt es aber für unangebracht, einem Kollegen vor allen Leuten zu widersprechen. Auch das komfortabel beheizte Schiff und die Wandlampen mit den Seidenfransen erwähnte er lieber nicht; stattdessen erklärte er, wie stolz und begeistert er sei, einem Institut anzugehören, das noch »Großes« leisten werde - Genaueres brachte er nicht über die Lippen -, eines Tages würden sie der amerikanischen Konkurrenz in Golden, Colorado, den Rang ablaufen. Ein Toast, Beifall, hastiges Händeschütteln und Schulterklopfen, und schon war Beard auf dem Weg zu seinem Taxi; Jock Braby persönlich trug ihm den Koffer, und als der Wagen losfuhr, trommelten die Pferdeschwänze johlend auf dem Autodach herum. Nur Aldous hielt sich zurück.

    Trotz der unzähligen Stunden, die er mit Reisen verbrachte, war das Reisen nicht seine Sache; nicht weil er unorganisiert oder ängstlich war, sondern weil ihm auf langen Reisen jedes Mal eine gewisse geistige Unzulänglichkeit zu schaffen machte, eine Leere im Kopf, eine gelangweilte Unrast, die, so dachte er, während er sich anschnallte, seinen wahren Zustand verriet, den er im Alltagstrott oder Schlaf nicht bemerkte. Auch auf festem Boden las er nie ein Buch zu Ende. Er war der Typ, der auf Reisen aus dem Fenster starrte, egal was dort zu sehen war, oder auf die Rückenlehne des Vordersitzes oder aber ein Bordmagazin von hinten nach vorn durchblätterte. Bestenfalls las er populärwissenschaftliche Zeitschriften wie jetzt gerade den Scientific American, um sich, wenn auch nur auf Laienniveau, in physikalischen Dingen auf dem Laufenden zu halten. Aber selbst dabei war seine Konzentration beeinträchtigt, da er aus lästiger, lebenslanger Gewohnheit ständig nach seinem eigenen Namen Ausschau hielt. Der sprang ihm wie fettgedruckt entgegen, auch wenn er eine Doppelseite voll Kleingedrucktem nur überflog, und manchmal spürte er ihn schon kommen, bevor er die Seite umgeschlagen hatte. Störend war auch seine überentwickelte Fähigkeit, den genauen Standort des Getränkewagens im Gang wahrzunehmen, das gedämpfte Klirren und sein asymptotisches Näherkommen. Mit oder ohne Drink neigte er auf Flugreisen zu ausschweifenden sexuellen Phantasien oder Erinnerungen oder einer Mischung aus beidem.
    Die Ovationen seiner Kollegen klangen ihm noch in den Ohren,

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