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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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stand auf. »Los, Mann. Auf geht's!«
    Vielleicht trug seine Verlegenheit dazu bei, dass die Schutzbrille wieder beschlug, dennoch hatte er eine ziemlich gute Vorstellung davon, wo es zum Ausgang ging; außerdem konnte er sich grob am Umriss von Jans Schulter orientieren.
    »Schon mal Schneemobil gefahren?«
    »Selbstverständlich«, log er.
    »Sehr gut. Wir müssen die anderen einholen.«
    »Wie weit ist es bis zum Schiff?«
    »Hundertfünfzehn Kilometer.«
    Als sie ins Freie traten, schlug ihm der Wind ins Gesicht, mindestens so hart wie Tarpin und mit denselben schmerz hatten Nachwirkungen. Das Kondenswasser in seiner Brille gefror auf der Stelle - bis auf einen kleinen Fleck, durch dessen Marmeladeschlieren er gerade noch erkennen konnte, wie Jan zu Fuß einen in den tiefen Schnee gegrabenen Weg einschlug, der sich zwischen den schemenhaft erkennbaren Gebäuden hindurchschlängelte. Nach zehn Minuten erreichten sie den Rand der Siedlung, eine endlose weiße Fläche, die sich am Horizont im Nebel verlor. Vielleicht ein Flugplatz, denn nicht weit von ihnen knatterte ein orangeroter Windsack waagerecht im Wind. An einem Graben standen zwei Motorschlitten und stießen geräuschvoll ihren eigenen blauschwarzen Nebel aus.
    »Ich bleibe hinter dir«, sagte Jan. »Mindestens fünfzig Stundenkilometer, sonst kommen wir nicht vor dem Sturm an. Okay?«
    »Okay.«
    Aber nichts war okay. Der stürmische Wind kam direkt von vorn. Seine Ohrläppchen, tief im Helm verborgen, waren bereits taub, Nasenspitze und Zehen ebenfalls. Um etwas zu sehen, musste er den Kopf schief legen, durch ein schrumpfendes schlieriges Loch spähen und gleichzeitig an dem glitzernden Sprung vor seinem linken Auge vorbeischielen. Aber das alles war nebensächlich, mit Blindheit und Schmerzen konnte er leben. Ein viel größeres Problem beunruhigte ihn, als er sich seinem Motorschlitten zuwandte. In seiner fahrigen Hast an diesem Morgen hatte er das ganze übliche Programm verschusselt. Er hatte sich weder rasiert noch gewaschen und das Bad überhaupt nur betreten, um einen halben Liter eiskaltes Wasser zu trinken. Dann war er mit seinem Gepäck aus dem Zimmer gerannt.
    Jetzt hatten sie minus sechsundzwanzig Grad bei Windstärke fünf, sie mussten sich beeilen, ein Sturm zog auf, Jan saß schon auf seiner Maschine und jagte den Motor hoch, und Beard, dick verpackt in zahllose Schichten widerspenstiger Kleidung, musste dringend Wasser lassen.
    Er sah sich um, so gut es ging. Die nächsten Häuser waren vierhundert Meter weit weg, die glatten Fassaden wiesen nur jeweils ein oder zwei winzige Fenster auf, hinter denen sich wohl die Toiletten verbargen. Ach, jetzt dort sein, in einem geheizten gekachelten Raum, barfuß im Pyjama, in aller Ruhe pinkeln können und dann noch einmal für ein Stündchen ins warme Bett zurück. Aber er könnte es auch gleich hier im Graben machen, sich mit dem Rücken zum Wind stellen, die Handschuhe ausziehen, mit bloßen Fingern den störrischen tiefgefrorenen Reißverschluss seines einteiligen Kälteschutzanzugs öffnen, unter der Jacke nach den Trägerschnallen seiner Skilatzhose tasten und sie irgendwie runterzerren, sich durch Pullover und Hemd, das lange Seidenunterhemd, die lange Unterhose und die kurze Unterhose wühlen, um endlich ans Ziel zu kommen und den Augenblick der Erleichterung zu genießen, an den er nicht zu denken wagte. Nein, zu kompliziert, das würde warten müssen, und außerdem fühlte er sich gleich besser, als er auf dem Sattel seines Schneemobils saß.
    Das Ding war ein schwachbrüstiges Gefährt auf Kufen, leicht zu bedienen. Einmal kurz den Gashebel rechts am Lenker gedreht, und es schoss mit überfordert aufbrüllendem Motor und einer stinkenden schwarzen Auspuffwolke nach vorn. Binnen Sekunden ratterte er über die Ebene, spähte durch die Sichtlöcher seiner Brille, immer den Spuren nach, die die anderen hinterlassen hatten und die zum Glück von der aufgehenden Sonne seitlich angestrahlt wurden. Der Wind, plötzlich ein Sturm von hundert Stundenkilometern, schnitt durch die Schichten seiner Kleidung, seine Nasenhaare erstarrten zu Stahlnadeln, die Zähne, alle seine Zähne, taten weh, sein Gesicht fühlte sich an wie abgeschält. Durch ein Wunder der Osmose fand die ganze Luft, die er ausatmete, einen Weg ins Innere seiner Schutzbrille und gefror; innerhalb von zehn Minuten sah er gar nichts mehr, nur noch verschwommene Kristalle. Er musste anhalten. Jan hielt neben ihm. Erstaunlicherweise

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