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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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heran, und die Weinkarte beschränkte sich auf einen nordafrikanischen Landwein. Eingeladen waren insgesamt zwanzig Künstler und Wissenschaftler, die sich mit dem Klimawandel beschäftigten. In nur fünfzehn Kilometer Entfernung, an der Küste des Fjords, befand sich ein dramatisch abschmelzender Gletscher, dessen steile blaue Klippen regelmäßig hausgroße Eisblöcke kalbten. An Bord gab es einen »international renommierten« italienischen Koch; allzu aufdringliche Eisbären würden notfalls von einem Führer mit einem großkalibrigen Gewehr erschossen. Vorträge wurden von Beard nicht erwartet - allein seine Anwesenheit zählte - die Stiftung übernahm sämtliche Kosten, und das Kohlendioxid von zwanzig Hin- und Rückflügen, von Schneemobilfahrten sowie sechzig in polarer Kälte zubereiteten warmen Mahlzeiten pro Tag sollte durch dreitausend neugepflanzte Bäume in Venezuela wettgemacht werden - sobald man ein geeignetes Gelände gefunden und die zuständigen Behörden bestochen hätte.
    Im Institut sprach sich schnell herum, dass er zum Nordpol reisen werde, »um sich mit eigenen Augen von der globalen Erwärmung zu überzeugen«; manche meinten, er bekomme Schlittenhunde vorgespannt, andere, er müsse den Schlitten selber ziehen. Beard, dem das alles peinlich war, ließ verlauten, es sei unwahrscheinlich, dass er ganz bis zum Pol vordringen werde, die meiste Zeit werde er ohnehin »im Lager« verbringen. Jock Braby staunte über Beards Engagement für die Sache und erbot sich, im Gemeinschaftsraum eine Abschiedsparty zu organisieren.
    In derselben Woche, in der ihn der Ruf zum Nordpol ereilte, begann Beard eine Affäre mit einer nicht mehr ganz taufrischen Buchhalterin, eine Zugbekanntschaft, die er zum Essen eingeladen hatte. Sie war angenehm geistlos, arbeitete für einen Düngemittelhersteller, und nach drei Wochen war alles vorbei. Entscheidend aber war, dass er dadurch nicht mehr so akut von Patrice besessen war, zwar nur für Momente, doch er wusste, er hatte eine Grenze überschritten. Bald würde er ganz aufhören, sie zu begehren, und das betrübte ihn, denn es machte ihm nur zu deutlich bewusst, dass es endgültig aus war, dass sie das komfortable Haus und ihre Habseligkeiten demnächst aufteilen mussten und er sie in ein, zwei Jahren womöglich nie mehr wiedersehen würde. Auch der Besuch bei Tarpin hatte dazu beigetragen, den Ablösungsprozess zu beschleunigen. Wie konnte er weiterhin eine Frau lieben, die so einen Kerl begehrte? So sehr erniedrigte sie sich, nur um es ihrem Ehemann heimzuzahlen?
    Was sonst noch alles wusste er nicht von ihr? Eine Antwort erhielt er kurz vor Weihnachten im Lauf eines lange aufgeschobenen Gesprächs, das sich zu einem spröden Streit von eisiger Endgültigkeit entwickelte. Schon seit einem halben Jahr wusste sie, dass die Mathematikerin von der Humboldt-Universität, Suzanne Reuben, nicht mal ein Zehntel seiner Geschichten war. Patrice kannte auch fast den ganzen Rest der Wahrheit und zählte ihm, während sie im Wohnzimmer auf und ab ging und mit ihren hohen Absätzen das Parkett ruinierte, unerbittlich Namen, Orte und ungefähres Datum auf, eine Liste, von ihr auswendig gelernt mit einer Besessenheit, die der seinen in nichts nachstand. Sie habe ihm ihre gute Laune immer nur vorgespielt, um ihr Elend zu verbergen, die Affäre mit Tarpin sei ihr Versuch gewesen, sich für die Demütigung zu entschädigen. Wie, bitte schön, konnte Beard elf Affären in fünf Jahren rechtfertigen? Er wollte gerade seine Mutter ins Feld führen, die es noch toller getrieben hatte, als Patrice das Zimmer verließ. Sie wollte selber reden, nicht zuhören. Endlich war es zu der Aussprache gekommen, die er sich seit Monaten gewünscht hatte. Jetzt wusste er nicht mehr, warum. Er fläzte sich aufs Sofa, legte die Beine auf die Glasplatte des Couchtischs, schloss die Augen und sehnte sich zum ersten Mal nach der reinen kalten Luft der baumlosen Arktis.
    Ende Februar wollte er vom Institut direkt nach Heathrow fahren. Während er zusammen mit den anderen im Gemeinschaftsraum auf seinen Abschied anstieß, stand draußen schon das Taxi bereit, und neben der Tür warteten sein Koffer und seine Reisetasche, in die er seine alten Skisachen gestopft hatte. Sie hatten jetzt einundsechzig Vollzeitbeschäftigte, die fast ausnahmslos zusammengekommen waren, um Jock Brabys Ansprache zu lauschen; denn hier galt es nicht nur Abschied zu nehmen, sondern auch die funkelnde Stahlkonstruktion zu feiern,

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