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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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auf den Kickstarter, es ging in halsbrecherischem Tempo los; sie rasten über betonharte Eisflächen und an fast senkrechten Steilwänden entlang wie verwegene Profis auf einer Radrennbahn. Warum lag er jetzt nicht zu Hause im Bett? Beard duckte sich in den Windschatten hinter Jans breitem Rücken. Das Brennen in seinen Lenden breitete sich aus, sein Schwanz war weiter nach unten gerutscht, klemmte jetzt in seiner Kniebeuge, und sie fuhren in die falsche Richtung, nach Norden, dem Pol entgegen, tiefer in die Ödnis hinein, in die eisige Finsternis - wo sie längst auf dem Weg zu einer gutbeleuchteten Notaufnahme in Longyearbyen sein sollten. Zweifellos wirkte die Kälte sich zu seinem Vorteil aus, sie hielt das Organ am Leben. Aber Mikrochirurgie? In Longyearbyen? Mit fünfzehnhundert Einwohnern? Beard fürchtete schon, er müsse sich übergeben, doch stattdessen schob er seine Hände unter den Gürtel von Jans Jacke, ließ den Kopf aufs Rückgrat seines Beschützers sinken und schlummerte ein; erst das jähe Verstummen des Motorschlittens weckte ihn, und dann erblickte er über sich den finster aus dem Eis ragenden Rumpf des Schiffs, auf dem er eine ganze Woche verbringen sollte.

    Wie sich herausstellte, war Beard der einzige Wissenschaftler inmitten einer Schar engagierter Künstler. Die ganze Welt mit all ihren Torheiten, von denen eine darin bestand, den Planeten aufzuheizen, lag südlich von ihnen, andere Himmelsrichtungen schien es hier gar nicht zu geben. Vor dem Abendessen in der Messe gab es eine Ansprache vom Leiter der Zusammenkunft am achtzigsten nördlichen Breitengrad, Barry Pickett, einem freundlichen, drahtigen Mann, der allein in einem Ruderboot den Atlantik überquert und dann sein Leben dem Aufzeichnen von Naturmusik (Rascheln von Blättern, sich brechende Wellen) gewidmet hatte.
    »Wir sind Herdentiere«, begann er mit einem dieser Biologismen, denen Beard prinzipiell misstraute, »und können nur überleben, wenn wir uns an gewisse Regeln des Zusammenlebens halten. Das gilt erst recht unter den hier oben herrschenden Bedingungen. Die erste betrifft die Stiefelkammer.«
    Eigentlich war es ganz einfach. Unter dem Steuerhaus befand sich ein enger, schlecht beleuchteter Umkleideraum. Jeder, der an Bord kam, musste dort haltmachen und die Kälteschutzkleidung an einen Haken hängen. Auf keinen Fall durften feuchte, verschneite oder vereiste Sachen in die Kabinen mitgenommen werden. Ausdrücklich verboten waren Helme, Schutzbrillen, Biwakmützen, Handschuhe, Stiefel, gebrauchte Socken und Schutzanzüge. Egal, ob sie nass, mit Schnee oder Eis bedeckt oder trocken waren, diese Sachen mussten in der Stiefelkammer bleiben. Verstöße wurden mit dem Tod geahndet. Die braven Künstler, verständige Leute in dicken Pullovern und Arbeitshemden, quittierten das mit einem nachsichtigen Lachen. Mit seinem fünften Glas libyschem Landwein in einer Ecke eingepfercht, trotz Schmerzmitteln unter Schmerzen leidend, heuchelte Beard, von Natur aus ein Einzelgänger, ein Lächeln. Er hasste es, Teil einer Gruppe zu sein, aber das brauchte hier niemand zu wissen. Es folgten weitere Vorschriften und organisatorische Dinge, doch er schweifte ab. Aus der Kombüse jenseits der eichengetäfelten Wand hinter Pickett duftete es nach gebratenem Fleisch und Knoblauch, man hörte Löffel klappern und die bullige Stimme des internationalen Kochs, der einen Gehilfen zusammenstauchte. Schwer zu ignorieren, wenn es bereits zwanzig nach acht war und es seit Stunden nichts zu essen gegeben hatte. Doch die Freiheit, essen zu können, wann er wollte, hatte Beard im törichten Süden zurückgelassen.
    Die Sonne hatte es den ganzen Tag lang keine fünf Grad über den Horizont geschafft und war schon um halb drei, als habe sie es endgültig satt, erleichtert untergegangen. Beard verfolgte das Ereignis durch ein Bullauge über seiner Koje, in der er sich vor Schmerzen wand. Er sah die flache Schneewüste des Fjords blau werden, dann schwarz. Wie hatte er sich nur einbilden können, es wäre ein Weg in die Freiheit, achtzehn Stunden am Tag mit zwanzig anderen auf engstem Raum zusammengepfercht zu verbringen? Als er bei der Ankunft auf der Suche nach seinem Quartier durch die Messe gekommen war, hatte er dort als Erstes in einer Ecke eine Wandergitarre entdeckt: Schon hörte er das Geschrammel und sah sich zum Mitsingen genötigt. Ein Bücherregal war mit Brettspielen und uralten Spielkarten vollgestopft. Genauso gut hätte er in ein Altersheim

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