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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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herausstellte, war das Teil mindestens zwei Nummern zu groß, aber als er einmal drinsteckte, hatte er keine Lust, es wieder auszuziehen. Die Stiefel hingegen waren eine Nummer zu klein. Von den Kleinteilen im Korb fehlte lediglich ein Handschuhfutter; stattdessen nahm er ein übriggebliebenes Futter von Nummer dreiundzwanzig und nahm sich vor, es nachher zurückzulegen. Der Sprung in seiner Schutzbrille störte ihn nicht mehr. Als er schließlich an Deck kam, spendeten die unten auf dem Eis Wartenden ihm ironisch Beifall, und um sich irgendwie auf die Gruppe einzustimmen, machte er eine Verbeugung. Trotz der Eile hielt er oben an der Gangway inne und nahm die Szenerie in sich auf. Eine Menge Leute bewegte sich auf dem Eis um das Schiff herum. Die Helme ließen ihre Köpfe unverhältnismäßig groß erscheinen, so dass sie sich in den pummeligen Kälteschutzanzügen von weitem wie Kleinkinder auf einem Kindergartenspielplatz ausnahmen. Die Choreographin und drei andere studierten ihren geometrischen Tanz ein; zwei Gestalten machten sich an einer Art Schneemann zu schaffen oder an einer Statue; einer, vermutlich Pickett, brachte zwischen zwei Eiszapfen ein Mikrophon an; jemand mit einer Kettensäge half einem anderen, zweifellos Jesus, vier Eisblöcke auf einen Schlitten zu laden; einer lag auf den Knien und polierte eine Eislinse von einem Meter Durchmesser. Eine Gestalt lief mit rotem Fähnchen und Trillerpfeife vor einer auf ein Stativ montierten Filmkamera im Kreis herum.
    Er hätte nicht gedacht, dass er sich so bald zu einer weiteren Schneemobilfahrt melden würde. Klaustrophobie und das fahlgelbe Licht über dem Fjord, das durch die Bullaugen der Messe fiel, hatten ihn dazu getrieben; dazu kam noch, dass es nicht gestattet war, ohne bewaffneten Führer vor die Tür zu gehen. Er schwang sich auf die letzte freie Maschine, und die Gruppe brach, einer hinter dem anderen, nach Osten auf, tiefer in den Fjord hinein. Eigentlich hätte es ein Vergnügen sein sollen, links und rechts die hohen Berge, durch eine breite Rinne aus Eis und Schnee dahinzusausen. Doch wieder drang der eisige Wind durch sämtliche Schichten, und wieder beschlug und vereiste die kaputte Brille binnen weniger Minuten, so dass Beard nichts anderes sehen konnte als den Schlitten vor ihm, und auch den nur als grauen Fleck. Außerdem flogen ihm sechs Auspuffwolken entgegen. Zehn Kilometer lang hielt Jan sein wildes Tempo. Wo der Wind den Schnee weggefegt hatte, wurden die Schlitten von der stahlharten geriffelten Eisfläche des Fjords durchgerüttelt.
    Zwanzig Minuten später war es plötzlich still, als sie hundert Meter vor dem unteren Rand des Gletschers zum Stehen kamen, einer zerklüfteten, fünfzehn Kilometer breiten blauen Wand. Der Anblick erinnerte an eine zerstörte Stadt, zwielichtig und lasterhaft: Schutthaufen, eingestürzte Türme, riesige Spalten. Sie hätten minus achtundzwanzig Grad, erklärte Jan, das sei zu kalt, da könnten sie nicht erwarten, dass zum Beweis für die polare Erwärmung größere Teile aus dem Gletscher herausbrächen. Eine Stunde lang wurde fotografiert und auf und ab gegangen. Dann entdeckte jemand einen Abdruck im Schnee. Alle drängten sich darum herum und traten schließlich zur Seite, damit Jan, der das Gewehr geschultert hatte, seine Fachkompetenz unter Beweis stellen konnte. Der Abdruck stammte natürlich von einem Eisbären und war noch ganz frisch. Da die Schneedecke hier recht dünn war, ließ sich nicht so leicht ein weiterer Abdruck finden. Jan suchte mit seinem Feldstecher den Horizont ab.
    »Ah«, sagte er ruhig. »Wir sollten besser verschwinden.«
    Er zeigte in die Ferne, aber zunächst sahen sie nichts. Erst als das Tier sich bewegte, war es deutlich zu erkennen. Etwa anderthalb Kilometer von ihnen entfernt. Ein Bär, der gemächlich auf sie zugetrottet kam.
    »Er hat Hunger«, sagte Jan nachsichtig. »Auf die Schlitten, Leute.«
    Selbst bei der Aussicht, bei lebendigem Leibe verspeist zu werden, bewahrte man Würde und rannte nicht allzu eilig zu den Schlitten. Beard hatte es schon geahnt, bevor er seinen erreichte. Alles auf dieser Reise hatte sich gegen ihn verschworen. Warum hätte er jetzt plötzlich Glück haben sollen? Er drückte auf den Starter. Nichts. Auch gut. Mochten ihm die Sehnen von den Knochen genagt werden. Er versuchte es noch einmal und noch einmal. Um ihn herum nichts als blaue Rauchwolken und jaulende Motoren - nun war doch noch Panik ausgebrochen. Schon donnerte die halbe

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