Solar
importierte er Whisky; er hatte vier Söhne, fünf Töchter, und vor zwanzig Jahren hatte er am Hafen von Andratx eine Schule für blinde Kinder gegründet. Seine Frau und zwei der Söhne verwalteten das Oliven- und Weingut in der Serra de Tramuntana, fünfzehn Kilometer südlich von Pollenca hoch über dem Meer, nicht weit von der berühmten Cova de ses Bruixes, der Hexenhöhle. Beards Schmerzen ließen allmählich nach, das Schmerzmittel hatte eine stark euphorisierende Wirkung. Noch nie hatte er etwas so sehr genossen wie dieses Steak, die Pommes frites, den Blattsalat und den Rotwein. Und sein Tischnachbar - er hatte noch nie jemanden getroffen, der Jesus hieß, wusste aber, dass das in Spanien kein ungewöhnlicher Name war - erschien ihm als die interessanteste Bekanntschaft seit Jahren.
Beard antwortete auf die Gegenfrage, er beschäftige sich mit theoretischer Physik. Das hörte sich immer wie eine Lüge an. Der Bildhauer schwieg kurz, vielleicht um sich sein Englisch zurechtzulegen, stellte dann eine überraschende Frage. Senior Beard möge nachsichtig sein gegenüber der Naivität und Unwissenheit eines ungebildeten Mannes, aber sei die von der Quantenmechanik beschriebene seltsame Realität eine Beschreibung der wirklichen Welt oder einfach nur ein System, das zufällig funktioniere? Angesteckt von der höflichen Redeweise des Mallorquiners sprach Beard ihm zu der Frage seinen Glückwunsch aus. Er selbst hätte sie nicht besser formulieren können, das sei die beste Frage, die man an die Quantentheorie richten könne. Einstein habe sich jahrelang intensiv damit beschäftigt und sei schließlich zu der Auffassung gelangt, die Theorie sei korrekt, aber unvollständig. Er habe intuitiv nicht akzeptieren können, dass es ohne Beobachter keine Realität geben solle beziehungsweise dass diese Realität vom Beobachter festgelegt werde, wie Bohr und die anderen zu sagen schienen. Um Einsteins denkwürdige Worte zu zitieren: Es gebe »reale Sachverhalte«. Er könne nicht glauben, dass der Mond erst existiert, wenn eine Maus ihn beobachtet. Die Quantenmechanik lege den Schluss nahe, dass mit der Messung des Zustands eines bestimmten Teilchens im selben Augenblick der Zustand eines anderen festgelegt sei, auch wenn dieses sehr weit entfernt sei. Einstein hielt dies für spiritualistisch, eine »spukhafte Fernwirkung« habe er es genannt, denn nichts könne sich schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Beard, der Realist, habe Verständnis für Einsteins langjährigen, erfolglosen Kampf gegen den Klüngel der Quantenpioniere, aber man müsse den Dingen ins Auge sehen: Experimentelle Beweise deuteten darauf hin, dass es spukhafte Wechselwirkungen über weite Entfernungen tatsächlich geben könnte und dass die Struktur der Realität sowohl im Kleinen als auch im Großen sich mit gesundem Menschenverstand allein schlichtweg nicht erklären lasse. Nach Einsteins Überzeugung werde sich die zur Beschreibung des Universums nötige Mathematik letztlich als elegant und relativ einfach erweisen. Doch schon zu seinen Lebzeiten seien zwei neue elementare Kräfte entdeckt worden, und seither sei durch ein kaum überschaubares Gewimmel neuer Teilchen und Antiteilchen und diverse imaginäre Dimensionen und alle möglichen provisorischen Anpassungsverfahren alles noch viel komplizierter geworden. Beard gebe jedoch die Hoffnung nicht auf, dass eines Tages ein Genie erstehen werde, das eine übergreifende Theorie entwickeln und alles in einer einzigen Formel von überwältigender Schönheit zusammenfassen werde. Dass er selbst der Auserwählte sei, der den Gral finden könnte (bei diesem kleinen Scherz legte er vertraulich eine Hand auf den dünnen Arm von Jesus), diese Hoffnung habe er nach vielen Jahren schließlich aufgegeben.
Er sagte das alles in den anschwellenden Lärm der zwanzig Klimawandelkünstler hinein, die sich jetzt, als die Teller abgeräumt wurden, über den Wein hermachten. Jesus bemerkte Beards Selbstironie nicht oder ging nicht darauf ein; mit todernster Miene blickte er in die Runde und verkündete, die Hoffnung aufzugeben sei immer ein Fehler, egal wie alt man ist. Seine besten Pinguine, die lebensnahesten und ausdrucksstärksten, habe er erst in den letzten zwei Jahren geschnitzt, auch habe er vor kurzem mit Eisbären angefangen, Wesen, die von der globalen Erwärmung stark bedroht seien und die früher weit jenseits seiner künstlerischen Fähigkeiten gelegen hätten. Seiner bescheidenen Meinung nach
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