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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Gruppe in Richtung Schiff davon. Jeder dachte nur noch an sich. Beard verschwendete keine Energie aufs Fluchen. Er zog den Choke, obwohl er wusste, dass das bei warmem Motor ein Fehler war. Er versuchte es noch einmal. Und noch einmal. Nichts. Er roch Benzin. Der Motor war abgesoffen, er hatte den Tod verdient. Mittlerweile waren alle anderen weg, auch der Führer; Beard nahm sich vor, dieses Pflichtversäumnis Pickett zu melden, oder dem König von Norwegen. Die Aufregung schlug sich wie üblich als gefrierender Nebel auf seiner Schutzbrille nieder. Demnach hatte es keinen Sinn, einen Blick hinter sich zu werfen. Er tat es dennoch und sah gefrorenen Nebel und einen schmalen Streifen Fjordeis. Vernünftigerweise musste er davon ausgehen, dass der Bär immer noch auf ihn zukam, doch offenbar hatte er dessen Schnelligkeit unterschätzt, denn in diesem Augenblick traf ihn ein heftiger Schlag auf die Schulter.
    Statt sich umzudrehen und sich das Gesicht zerfetzen zu lassen, zog er in Erwartung des Schlimmsten die Schultern hoch. Sein letzter Gedanke - dass er es in seiner Sorglosigkeit versäumt hatte, sein Testament zu ändern, und nun Patrice alles erben würde, um es mit Tarpin durchzubringen - wäre bedrückend gewesen, aber dann drang die Stimme des Führers zu ihm durch.
    »Lass mich mal.«
    Der Nobelpreisträger hatte den Schalter für den Scheinwerfer erwischt. Der Motor sprang bei der leisesten Berührung an.
    »Los«, sagte Jan. »Ich bin hinter dir.«
    Trotz der Gefahr sah Beard noch einmal zurück, um womöglich, der künftigen Anekdote wegen, das Tier zu erblicken, dem er nun entkommen würde. In dem schmalen, halb durchsichtigen Streifen am Rand der zugefrorenen Brillengläser glaubte er eine Bewegung zu erkennen, aber das konnte auch die Hand des Führers oder ein Stück seiner eigenen Biwakmütze sein. In seiner Darstellung der Ereignisse, die er bis ans Ende seines Lebens beibehielt und die für ihn zur Wahrheit wurde, stürzte ein Eisbär mit aufgerissenem Rachen auf ihn zu und war nur noch zwanzig Meter entfernt, als sein Motorschlitten endlich anfuhr - nicht weil oder nicht nur weil er ein Lügner war, sondern weil er instinktiv wusste, dass man sich eine gute Geschichte nicht entgehen lassen durfte.
    Sein Jauchzer bei der Jagd über das lärmende Eis wurde von dem eisigen Hurrikan geschluckt, der ihm ins Gesicht fuhr. Was für eine befreiende Entdeckung, dass er, ein Mensch der Moderne, ein Stadtbewohner und Stubenhocker, der von Tastatur und Bildschirm lebte, zur Strecke gebracht, in Stücke gerissen und zu einer vollwertigen Mahlzeit werden konnte, zu einer Nahrungsquelle für andere!
    Vielleicht war das der erhebendste Moment dieser Woche. Binnen Minuten, so schien es ihm, hatten sie ihren Stützpunkt erreicht. Es war erst Viertel vor zwei, und schon senkte sich mit noch eisigerer Luft und orangerotem Licht der Abend auf die wenigen Künstler herab, die sich noch nicht ins Schiff zurückgezogen hatten. In seinen Lenden brannte es so sehr, dass er wartete, bis die anderen hineingegangen waren, um dann rückwärts die Gangway hinaufzusteigen. So tat es weniger weh. Auf der Schwelle zur Stiefelkammer blieb er stehen, wartete, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, und stellte schließlich fest, dass irgendjemand seinen Haken in Beschlag genommen hatte. Konstruktiv gestimmt, räumte er den ganzen Kram samt Stiefel in eine freie Ecke. Als er seine vereiste Biwakmütze auszog, entglitt sie ihm und plumpste zu Boden, von wo sie ihn mit aufgerissenem Mund ungläubig anzustarren schien. Was hatte er hier verloren? Er verstaute seine Ausrüstung, betrat die Messe mit einem Gruß in die Runde - ein halbes Dutzend Leute waren dort -, nahm sich ein heißes Getränk und verzog sich damit in seine Koje.
    Dass der Nordpol über dem Südpol liege, hatten Kartographen willkürlich festgelegt, dennoch konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, er befinde sich auf dem Dach der Welt und alle anderen, einschließlich Patrice, seien unter ihm. Er hatte den Überblick, und diese Nachmittage in der arktischen Dämmerung, wenn er sich beim Kakao vergegenwärtigte, dass sein altes Leben zu Ende ging und es unbedingt einen Neuanfang geben müsse, wurden zum Ritual: sich nicht mehr hängenlassen, abnehmen, fit werden, sein Leben ordnen, einfach, aber effizient. Und sich endlich ernsthaft um Arbeit kümmern, auch wenn er keine Ahnung hatte, ob es für ihn irgendeine Art von Arbeit gab, für die er nicht

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