Solar
konnte. Vorsichtshalber stopfte er die eigenen in seine Stiefel, zusammen mit den Handschuhfuttern. Am nächsten Tag waren die Stiefel weg.
Die Abende aber gefielen ihm. Wenn sie sich vor dem Essen in der Messe versammelten, war es schon seit fünf Stunden dunkel. Bis der erste Gang aufgetischt wurde, blieben zwei Stunden zum Trinken. Der Wein stammte aus einer wenig beachteten Gegend in Libyen. Meist begann er mit Weißem, wechselte dann zu Rotwein, bis ihm schlecht wurde und er wieder Weißen nahm, und normalerweise blieb bis zum Schlafengehen genug Zeit, noch einmal umzuschalten. Nach dem Essen gab es natürlich nur ein Thema. Meistens hörte Beard bloß zu. Er hatte noch nie eine solche Zusammenballung von Idealisten erlebt und reagierte darauf abwechselnd fasziniert, betreten, peinlich berührt. Als Pickett ihn am dritten Abend bat, von seiner Arbeit zu erzählen, stand er auf, um sich Gehör zu verschaffen. Er beschrieb das Institut und die Quadrupelhelix-Windturbine für den Hausgebrauch, die er glaubhaft als seine Idee darzustellen wusste. Die Konstruktion sei etwas vollkommen Neues, erklärte er seinen Zuhörern und machte eine Skizze, die er herumgehen ließ. Mit dieser Turbine ließen sich die privaten Stromkosten um fünfundachtzig Prozent senken, eine Ersparnis, deren Gesamtwert - nicht ganz betrunken, zauberte er eine Zahl aus dem Hut - dreiundzwanzig mittelgroße Kraftwerke einsparen helfe. Respektvolle Fragen dazu beantwortete er mit Bedacht und verständlich. Er befand sich unter wissenschaftlichen Analphabeten, denen er egal was hätte erzählen können. Stella Polkinghorne leistete ihm leidenschaftlich Schützenhilfe. Beard sei der Einzige hier, der etwas »Reales« mache, was ihm die Sympathie der anderen einbrachte und den Saal in lauten Beifall ausbrechen ließ. Er hatte sich nie viel daraus gemacht, was andere von ihm hielten, aber in diesem Augenblick - wie peinlich - konnte er nicht verbergen, wie sehr es ihm naheging, für einige wenige Minuten der Liebling aller Versammelten zu sein.
Ansonsten hörte er zu und trank. Nach zwei oder drei Gläsern Weißwein ging der Rote problemlos runter wie Wasser, zumindest am Anfang. Es waren wiederkehrende Gesprächsthemen - manche wurden wie im Kanon vorgetragen, wobei ein Einsatz den anderen jagte; andere hatten die Form einer Fuge und waren ineinander verschränkt wie Enttäuschung und Verbitterung: Das Jahrhundert sei abgelaufen, und der Klimawandel interessiere immer noch nur am Rande; Bush habe Clintons bescheidene Ansätze zunichtegemacht, die Vereinigten Staaten würden Kyoto die kalte Schulter zeigen, Blair begreife offensichtlich nicht, was auf dem Spiel stehe, die alten Hoffnungen von Rio seien dahin. Am Ende aber dominierte statt der Enttäuschung nackte Panik die Klangkulisse. Der Golfstrom werde versiegen, die Europäer in ihren Betten erfrieren, das Amazonasgebiet werde zur Wüste, ganze Kontinente würden in Flammen aufgehen, andere im Meer versinken, im Jahr 2085 sei die Arktis im Sommer eisfrei und der Eisbär ausgestorben. Beard hatte alle diese Prophezeiungen schon oft gehört und glaubte kein Wort. Und wenn er daran geglaubt hätte, hätte es ihm keine Angst gemacht. Ein kinderloser Mann, vor dem Scherbenhaufen seiner fünften Ehe, konnte sich ein Quentchen Nihilismus leisten. Die Erde käme auch ohne Patrice und Michael Beard zurecht. Und wenn sie alle anderen Menschen losgeworden wäre, würde sie sich einfach weiterdrehen und spätestens in zehn Millionen Jahren von seltsamen neuen Lebewesen wimmeln, darunter vielleicht keines von der Vernunft eines Affen. Wen würde es dann kümmern, dass niemand sich an Shakespeare, Bach, Einstein erinnerte oder an das Beard-Einstein-Theorem?
Während dunkle und noch grimmigere Kälte das Schiff in dem einsamen zugefrorenen Fjord umhüllte und das tapfere gelbe Leuchten der Bullaugen das einzige Licht weit und breit war, das einzige Anzeichen von Leben in der knackenden Eiswüste, entfalteten sich andere Themen symphonisch: was zu tun sei, welche Abkommen zwischen den streitsüchtigen Nationen geschlossen werden müssten, welche Zugeständnisse, welche Geschenke die reichen Länder im eigenen Interesse den armen machen sollten. Satt und weinselig in der behaglich feuchtwarmen Messe, schien es der Runde, dass allein die Vernunft es vermochte, über kurzsichtige Interessen und Gier zu siegen, ja dass es der Vernunft oblag, das Gespenst einer unheilvollen Zukunft an die Wand zu malen, in der die
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