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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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polierte Eisscheibe, in der sich das Licht der den ganzen Tag untergehenden Sonne brach, die Pinguine von Jesus - dreißig Stück - und seine drei Eisbären, die hinter dem Bug des Schiffs übers Eis marschierten, das schroffe, unergründliche, mit Kraftausdrücken durchsetzte Fragment eines Romans, das Meredith an einem Abend mit schriller Stimme vorlas: Alle diese Zurschaustellungen waren - wie Gebete, wie Tänze um den Totempfahl - zu dem Zweck erdacht, eine nahende Katastrophe abzuwenden.
    So viel zu Musik und Magie der Klimawandeldebatten im Bauch des Schiffs. Unterdessen wurde die Situation in der Stiefelkammer, hinter der Wand, die er Schott zu nennen gelernt hatte, immer kritischer. Mitte der Woche fehlten vier Helme, drei der schweren Kälteschutzanzüge und zahlreiche kleinere Gegenstände. Nur noch zwei Drittel der Gruppe konnten gleichzeitig ins Freie gehen. Wer rauswollte, musste stehlen. Der Zustand der Stiefelkammer, die zunehmende Entropie, wurde zum Thema von Barry Picketts abendlichen Ansprachen. Und Beard, der sich seiner entscheidenden Rolle, seiner großzügigen Mithilfe bei der Herstellung dieses Zustands gar nicht bewusst war, sah sich veranlasst, ausgiebig über den Sündenfall nachzudenken. Vor vier Tagen hatte in der Kammer Ordnung geherrscht, alle Sachen waren an und unter den nummerierten Haken verstaut gewesen. Endliche Ressourcen, im noch nicht so lange vergangenen Goldenen Zeitalter gerecht aufgeteilt. Und jetzt alles zunichte. Kaum mehr möglich, Ordnung zu schaffen, wenn überall in der Kammer Rucksäcke, Beutel und Plastiktüten voller Extrahandschuhe, Schals und Schokoriegel herumlagen. Niemand, dachte er und bewunderte seinen Edelmut, hatte sich schlecht benommen, alle hatten sich, da sie aufs Eis hinauswollten, unter den gegebenen Umständen vollkommen logisch verhalten, wenn sie ihre fehlenden Biwakmützen oder Handschuhe an einer unvermuteten Stelle »entdeckt« hatten. Es mochte pervers oder zynisch sein, sich über diese Vorstellung zu amüsieren, aber er konnte nicht anders: Wie wollten sie die Erde retten - vorausgesetzt, sie musste gerettet werden, was er bezweifelte -, die doch so viel größer war als die Stiefelkammer?
    Beim Frühstück am letzten Morgen lärmte draußen die gesamte Schneemobilflotte, die man schon mal warmlaufen ließ. Als sie aufs Eis gingen, waren die wenigsten vollständig ausgestattet. Beard hatte keinen Helm. Während er auf das Signal zum Aufbruch wartete, wärmte er seine Schutzbrille am Motor vor und wickelte sich einen Schal um den Kopf. Die tiefstehende orangerote Sonne schien ungehindert, sie würden Rückenwind haben, und es sah ganz so aus, als könnte die Fahrt nach Longyearbyen ein nettes Abenteuer werden, wenn man nur vollständig bekleidet wäre. Von Deck ertönte ein Schrei. Barry Pickett und einer von der Mannschaft erschienen auf der Gangway, sie schleppten einen riesigen Sack aus Faserverbundstoff, wie Bauarbeiter ihn zum Transportieren von Sand benutzen. Fundstücke. Alles drängte sich um den Schatz und wühlte darin herum. Beard fand einen Helm, der ihm passte, das musste seiner sein. Niemand schämte sich oder war auch nur im Geringsten verlegen. Da waren ihre Sachen ja. Wo hatten die bloß die ganze Zeit gesteckt?
    Sie verabschiedeten sich von der Mannschaft, und dann ging es los; in langer Reihe verpesteten sie die Luft und lärmten über den Fjord in Richtung Longyearbyen. Mehr als vornehme fünfundzwanzig Stundenkilometer waren nicht drin, da der Wind ihnen nun doch schneidend entgegenkam. Tief über seine Maschine geduckt, um ein wenig von der Wärme des Motors im Gesicht zu spüren, empfand Beard so etwas wie Wohlbehagen - ein wenig vertrautes Gefühl so früh am Morgen. Er hatte nicht mal einen Kater. Am eisigen Ufer des Fjords bremsten sie auf Schritttempo ab und kurvten um tiefe Furchen und Spalten herum. An die konnte er sich von der Hinfahrt gar nicht erinnern. Aber natürlich, er hatte ja hinter Jans Rücken geschlafen. Schließlich gelangten sie auf eine lange, gerade Schneepiste, die an einer Hütte vorbeiführte, in der, wie sie von den Führern wussten, einst ein bedeutender Exzentriker gehaust hatte, ganz allein.
    Wenn er, dachte Beard, jemals mit einem Raumschiff in eine andere Galaxie reisen sollte, würde er bald entsetzliches Heimweh nach diesen Leuten haben, seinen Brüdern und Schwestern da vor ihm, nach einem jeden, sogar nach seinen Exfrauen. Ihn durchströmte die angenehme Illusion, die Menschen zu

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