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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Antworten erschwert. Würde er diesen Morgenmantel jemals wieder tragen wollen? Wohl kaum. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, zwei Liebhaber von Patrice in durchnässtem Zustand anzutreffen? Gleich null. Natürlich schien das Schweigen viel länger zu dauern, als es das in Wirklichkeit tat. Schließlich brach Aldous es mit einem Kichern, einem nervösen Wiehern, das er hinter vorgehaltener Hand zu verbergen suchte. Seine schlimmste Befürchtung war wahr geworden. Einen sehr kurzen Augenblick lang mochte er Beards Gestalt in der Tür für eine Erscheinung gehalten haben, für das paranoide Produkt eines überreizten Hirns. Jetzt wusste er, dem war nicht so. Vielleicht hatte er in diesem Moment der Sprachlosigkeit auch noch eine andere, realere Vision gehabt - den Trümmerhaufen seiner Karriere. Die theoretische Physik war ein Dorf, und am Brunnen vor dem Tore hatte Beard noch einigen Einfluss. Glaubte Aldous, ein institutseigenes Pflänzchen, mit Ausflüchten davonzukommen? Die Hand, mit der er sein Kichern unterdrückt hatte, steuerte auf den niedrigen Glastisch vor dem Sofa zu. Neben einem Stapel Zeitschriften stand eine schlanke Kaffeetasse - zartes, weißes Porzellan, eine von sechs, die Patrice bei Henri Bendel in New York gekauft hatte. Aldous führte sie an seine Lippen. Falls er mit dieser Geste seine Unschuld oder Gelassenheit demonstrieren wollte, machte ihm dabei die Zeitung einen Strich durch die Rechnung, die ihm vom Schoß rutschte und mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden landete. Ohne den Herrn des Hauses aus den Augen zu lassen, nahm er einen unverschämten Schluck. Beard tat einen Schritt auf ihn zu.
    »Stellen Sie das hin, Mann. Und stehen Sie auf.«
    Nur gut, dass Aldous gehorchte, denn Beard, zwei Handbreit kleiner, dreißig Jahre älter und ohne Kraft in den Armen, war körperlich gar nicht in der Lage, ihm seinen Willen aufzuzwingen. Er besaß nur seine rechtschaffene Entrüstung und das bisschen Autorität, über das ein Betrogener verfügen mochte. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, den Rücken kerzengerade, um seine ganzen hundertfünfundsechzig Zentimeter zur Geltung zu bringen, sah er zu, wie Aldous sich hochrappelte und hastig den Gürtel um den Morgenmantel festzog, unter dem er, wie kurz deutlich wurde, nackt war.
    »Also, Mister Aldous.«
    »Hören Sie«, sagte Aldous und machte eine abwiegelnde Handbewegung, »lassen Sie uns in Ruhe darüber reden. Professor Beard, darf ich Sie Michael nennen?«
    »Nein.«
    »Verstehen Sie, wir sollten uns nicht in Rollen drängen lassen, die andere für uns geschrieben haben, als...«
    Beard tat einen weiteren Schritt auf ihn zu. Er glaubte keine Sekunde daran, dass es zu Handgreiflichkeiten kommen würde, hatte aber nichts dagegen, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. »Was haben Sie in meinem Haus zu suchen?«

Der bäuerliche Norfolker Akzent schien für eine bestimmte Art von Flehen besonders geeignet. In solchem Tonfall mochten die Pächter einst in schlechten Zeiten ihren Gutsherrn um niedrigere Pachtzinsen angefleht haben. »Ich wollte nur noch den Kaffee austrinken, mich anziehen, alles aufräumen und dann gehen. Ich wollte, wie es mir aufgetragen wurde, die Tür von außen zweimal abschließen und den Schlüssel in den Briefkasten werfen. Wären Sie nicht so früh zurückgekommen, hätte es...«
    »Ich habe gefragt: Was haben Sie in meinem Haus zu suchen?«
    Aldous hob unschuldig die Hände. »Ich habe mit Patrice zu Abend gegessen und bin über Nacht geblieben. Hören Sie, Professor Beard, darf ich offen sein?«
    Er hielt inne, als erwarte er tatsächlich eine Antwort. Als er keine bekam, fuhr er fort: »Wir denken doch beide rational. Das ist unser Beruf. Also lassen wir uns nicht zu Reaktionen hinreißen, die der Situation längst nicht mehr angemessen sind. Wir beide wissen, dass Ihre Ehe am Ende ist. Rein formal sind Sie und Patrice noch Mann und Frau, aber Sie reden nicht einmal mehr miteinander, und das schon seit langem, und jetzt stehen Sie da und wollen den Gekränkten spielen, den wütenden Ehemann, der den Liebhaber seiner Frau auf frischer Tat ertappt hat, wo Sie in Wirklichkeit bestimmt schon daran denken, hier auszuziehen. Jedenfalls hat Patrice diesen Eindruck, und es wäre ihr auch am liebsten so.«
    Beard wartete ab.
    »Worauf ich hinauswill, Professor Beard - ich wünschte, ich dürfte Michael zu Ihnen sagen -, wir könnten den ganzen Zorn und Schmerz doch einfach überspringen, wir könnten das ganz sachlich

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