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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ganze Menschheit verglühen, erfrieren oder ertrinken müsste.
    Das Gefasel über Staaten und Verträge war noch geradezu weltliche Musik - im Vergleich zu einem anderen Leitmotiv, das im einschläfernden Metrum asketischen Mönchsgesangs daherkam, eine puritanische Weise aus alten Umweltschutzzeiten, misstrauisch gegenüber technologischen Lösungen und felsenfest davon überzeugt, Abhilfe könne nur geschaffen werden, wenn jeder Mensch sein Leben ändere, vonnöten sei ein behutsamerer Umgang mit den unersetzlichen, hochempfindlichen Ökosystemen, eine quasi religiöse Beachtung neuer Grundsätze, auf dass die Menschen auch jenseits von Supermärkten, Flughäfen, Beton, Verkehr oder Kraftwerken Erfüllung fänden - eine Minderheitenmeinung, mit schuldbewusstem Respekt von all denen zur Kenntnis genommen, die hier auf ihren stinkenden Motorschlitten durch die Urlandschaft rasten.
    Beard, der meist mit Jesus in der Ecke saß, hörte für gewöhnlich nur zu; einmal jedoch meldete er sich zu Wort, am letzten Abend, als ein schlaksiger Romanschriftsteller namens Meredith, der anscheinend vergessen hatte, dass ein Physiker anwesend war, auf Heisenbergs Unschärferelation zu sprechen kam, welche besage, je mehr man über die Position eines Teilchens wisse, desto weniger wisse man über seine Geschwindigkeit, und umgekehrt; daraus lasse sich für unsere Zeit der Verlust eines »moralischen Kompasses« ableiten, die Schwierigkeit, zu einem unabhängigen Urteil zu kommen. Beard widersprach gereizt. So könne man das nicht sagen, beschied er dem kurzhaarigen Burschen mit der randlosen Brille. Es gehe nicht um die Geschwindigkeit, sondern um den Impuls, mit anderen Worten, Masse mal Geschwindigkeit. Diese Haarspalterei wurde mit unterdrücktem Stöhnen quittiert. Beard sagte, die Unschärferelation sei auf Fragen der Moral nicht anwendbar. Hingegen ließen sich mit der Quantenmechanik sehr akkurate Vorhersagen über die statistische Wahrscheinlichkeit physikalischer Zustände machen. Der Schriftsteller bekam einen roten Kopf, wollte aber nicht nachgeben. Ob er nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte? Ja, okay, statistische Wahrscheinlichkeit, schön und gut, meinte er hartnäckig, aber das sei keine Gewissheit. Worauf Beard, der gerade sein achtes Glas Wein austrank und jetzt merkte, wie ihm Nase und Oberlippe vor Verachtung für diesen ahnungslosen Eindringling auf sein Gebiet nach oben wanderten, nachdrücklich erwiderte, es sei mit der Unschärferelation durchaus vereinbar, den Zustand, sagen wir, eines Photons präzise zu bestimmen, solange man es wiederholt beobachten könne. Eine Analogie zu Fragen der Moral könne man allenfalls darin sehen, dass man ein moralisches Problem mehrmals untersuchen sollte, bevor man irgendwelche Schlüsse ziehe. Aber der Punkt sei der - Heisenbergs Unschärferelation lasse sich nur dann anwenden, wenn die Summe von Recht plus Unrecht dividiert durch die Wurzel aus zwei einen Sinn ergebe.
    Nicht verblüfftes, sondern betretenes Schweigen senkte sich über den Raum. Meredith machte ein ratloses Gesicht, als Beard mit der Faust auf den Tisch schlug. »Also los. Raus mit der Sprache. Wie wollen Sie Heisenberg auf die Ethik anwenden? Recht plus Unrecht geteilt durch die Wurzel aus zwei. Was zum Teufel soll da rauskommen? Nichts!«
    Barry Pickett lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema.
    Aber das war der einzige Misston. Das Unvergessliche und Überraschende waren Abend für Abend, meist zu später Stunde, die munteren Töne einer Blaskapelle oder die Klänge eines gewaltigen Chors, der einstimmig von gemeinsamen Zielen sang und jegliche Enttäuschung und Verbitterung für eine Weile vergessen ließ. Beard hätte es nicht für möglich gehalten, dass er einmal mit so vielen Gleichgesinnten in einem Raum sitzen und trinken würde, dass es hehre Kunst wäre - Dichtung, Bildhauerei, Tanz, absolute Musik, Konzeptkunst -, die den Klimawandel als Thema auserkor, veredelte und umspielte, die den ganzen Schrecken und die verlorene Schönheit und die ungeheure Bedrohung enthüllen und die Öffentlichkeit anspornen wollte, sich Gedanken zu machen, etwas zu unternehmen oder das von anderen einzufordern. Er saß da, vor Staunen stumm. Idealismus war seinem Wesen so fremd, dass es ihm die Sprache verschlug. Er befand sich auf unbekanntem Terrain, bei einem freundlichen Stamm von Exoten. Die Schneemänner, die am Fuß der Gangway Wache hielten, das aufgezeichnete Heulen des Winds in der Takelage, die

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