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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ihn, wie er plötzlich hoffte. Von der Deckenkonstruktion der Ankunftshalle schien sich eine Stille über ihn zu legen wie eine dichte Schneedecke, eine köstliche Frische, und auf einmal hatte er es nicht mehr eilig. Diese feinporige, lichtabsorbierende, lichtliebende Haut, diese hohen Wangenknochen (er sah von der Seite nur einen), die sich in einem sanften Bogen wölbten, diese braunen Augen, die sich so ernst mit seinem Fall befassten, diese glückliche Vermählung, wie er fand, von Klugheit und Anmut. Vor Jahrtausenden waren in der Wüste, in einem kühlen Refugium, die Gene einer Gazelle in den menschlichen Genpool gelangt. Hin Gedanke, den man als Form von Rassismus oder als Ausdruck schlichter Bewunderung deuten mochte - Beard war in jedem Fall nicht in der Stimmung, ihn zu verscheuchen. Ganz darin versunken, betrachtete er den schwarzen linken Unterarm, der lang und schmal wie ein Salatlöffel reglos neben dem fleckigen Einband seines umgedrehten Ausweises lag.
    In solchen Dingen blieb er ein unbelehrbarer Trottel - seine Gewohnheiten waren eingeschliffen, er war kein bisschen klüger als mit fünfundzwanzig, es gab keine Aussicht auf Besserung, wie alle seine früheren Frauen einmütig befunden hatten -, also gab er sich, bis die Beamtin das Wort an ihn richtete, der verlockenden Vorstellung hin, dass er sie zum Abendessen einladen könnte. Er lud ständig Frauen, fremde Frauen, zum Essen ein, und nicht jede sagte nein. Seine Beziehung zu Patrice hatte mit einer solchen Einladung begonnen und zu derart fatalen Entwicklungen geführt, dass er sich noch heute, zehn Jahre später, daran erinnerte, was er damals serviert bekam. Es weissagte alles Künftige, es war ein Fluch: ein Rochen mit Kapern und verbrannter ausgelassener Butter, ein versalzener Rucola-Salat, ein vergorener Pinot Grigio, natürlich mit Korken - und er in so fataler Verzückung, dass er nicht einmal den Sommelier herbeirief.
    Die junge Frau sah ihm in die Augen. »Sie sind viel im Nahen Osten gereist.«
    Ihre Aussprache war glottal, die Feststellung als Frage intoniert, sogenannter Uptalk, wie er kürzlich gelernt hatte. Was die Sprache betraf, hatte er sich in letzter Zeit zum Snob entwickelt, einer Art umgekehrter Snob, der allerdings durch sein Alter und sein eingeschränktes Umfeld irgendwelche bestimmten Akzente nicht mehr gesellschaftlich einzuordnen vermochte. Vor einem Jahr hatte er eine Affäre mit einer Londoner Kellnerin angefangen, die er für ein Pflänzchen aus einer abgelegenen Sozialbausiedlung gehalten hatte. Dann aber stellte sich heraus, dass sie in den Surrey Hills in einer hinter hohen Lorbeersträuchern verborgenen Lutyens-Villa aufgewachsen war; ihr Vater war ein in den Adelsstand erhobener Mathematiker und Mitglied der Royal Society. Beard hatte sofort das Weite gesucht. Doch jetzt packte ihn wieder einmal die Lust auf etwas Volkstümliches, ein rassiges Abenteuer. »Ja, das stimmt«, sagte er trocken.
    »Libyen, Ägypten, Sudan. Und so weiter. Geschäftlich?« Er nickte. »Welche Branche?«
    Die Frage hatte man ihm schon an vielen solchen Schaltern gestellt. Er sagte: »Energieberatung.«
    »Geht es um Öl?«
    Wieder weckte ihr breiter Akzent ungesunde Gedanken.
    »Nein. Sonnenenergie.«
    »Ein Sonnenwärmekraftwerk?«
    Nicht ganz, aber er nickte. Sie kannte sich aus. In einer wirren Anwandlung von tugendhaftem Sehnen und fleischlichem Eigennutz überhüpfte er in Gedanken das Abendessen und gelangte direkt in jene Zeit, wo sie bei der Passkontrolle gekündigt hatte und beruhigend kompetent an seiner Seite reiste, mit ihm und für ihn arbeitete, für ihn und mit ihm lebte, für seine Vision von einer Welt, die durch Photovoltaik, solarthermische Kraftwerke, vor allem aber durch die von ihm entwickelte künstliche Photosynthese sowie zentrale oder dezentralisierte, vernetzte Systeme mit sauberer Energie versorgt und nicht mehr von globaler Erwärmung bedroht wurde. Er würde ihr alles beibringen, was er über Dünnschichtmodule, Heliostaten und Einspeisetarife wusste. Während der Arbeitszeit wäre sie eine tüchtige Mitarbeiterin, außerhalb davon willig, athletisch und voller niederer Instinkte.
    Er fing gerade im Plauderton an: »Ach, Sie interessieren sich also für...«, als sie ihm das Wort abschnitt.
    »Danke, Mr Beard. « Sie reichte ihm seinen Pass mit der rechten Hand, über die linke hinweg, die unbeachtet und bewegungslos auf dem Pult liegen blieb. Aber natürlich! Unbrauchbar, verkümmert, ein Handicap.

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