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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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seines Jacketts, nahm den schweren Zeitungspacken und den Rollkoffer und setzte seinen Weg durch die Flughafenhalle fort. Er hatte fünfunddreißig Pfund Übergewicht. Schon oft hatte er sich vorgenommen, sich hoch und heilig versprochen, dass er demnächst abnehmen werde, meist nach dem Essen mit einem Glas Wein in der Hand, und alle Parlamentarier hatten zustimmend genickt. Was ihn zu Fall brachte, war immer die Gegenwart, der Augenblick leibhaftiger Konfrontation mit dem verlockenden Leckerbissen, dem zusätzlichen Gang, der Mahlzeit, die er eigentlich nicht brauchte - stets trug die Fraktion der kurzfristigen Interessen den Sieg davon.
    Der Rückflug von Berlin bot ein typisches Beispiel. Während er, keine zwei Stunden nach einem nahrhaften deutschen Frühstück, sein breites Hinterteil in den Flugzeugsitz zwängte, formulierte er seine Vorsätze: keine Drinks, nur Wasser, keine Snacks, ein grüner Blattsalat, eine Portion Fisch, kein Nachtisch; zur gleichen Zeit jedoch griff er, als ein silbernes Tablett im Verein mit einer verführerisch säuselnden weiblichen Stimme anrückte, nach seinem Begrüßungssekt. Eine halbe Stunde später riss er den Beutel mit den stark gesalzenen Maisflips mit Rindfleischgeschmacksglasur auf, der ihm zusammen mit seinem extragroßen Gin Tonic serviert wurde. Dann wurde ein weißes Tischtuch vor ihm ausgebreitet, dessen Anblick den neuronalen Startschuss für seine Magensäfte gab. Mit dem Gin schwand der Rest seiner Entschlossenheit. Entgegen seinen Vorsätzen begann er mit der Vorspeise auf dem Tablett: Wachtelschenkel im Speckmantel auf Knoblauchmayonnaise. Als Hauptgang Schweinebauchwürfel auf einem Ringwall aus Butterreis. Absolut unwiderstehlich war der mit Kuvertüre überzogene Schokoladenpave auf einem Bett aus Schokoladensauce, und dann ging es weiter mit Ziegenkäse, Kuhmilchkäse in einem Nest grüner Weintrauben, drei Brötchen, Minzschokolade und drei Gläsern Burgunder, und zum Abschluss, als könnte ihn das von allem anderen freisprechen, zwang er sich an den Anfang zurück und verzehrte auch noch den öltriefenden Salat, der zu der Wachtel gereicht worden war. Als sein Tablett abgeräumt wurde, waren nur noch die Trauben übrig.

    Er kaufte eine Fahrkarte und setzte sich in dem halbleeren Zug an einen Tischplatz. Ihm gegenüber saß einer dieser jungen Männer - Mitte dreißig, kahlrasiert, Hamsterbacken, Stiernacken aus dem Fitnessstudio -, die für Beards unbedarftes Auge alle gleich aussahen. Dieser hier zeichnete sich jedoch durch die Piercings in seinen Ohren aus. Nach einem kleinen Hin und Her unterm Tisch, einem höflichen Ballett, hatten sie ihre Füße sortiert. Dann machte der Jüngere sich wieder an seine sms, und Beard überflog die Titelseiten: Wie der Horizont sich doch verengte, sobald man nach Hause kam! Waren das nicht dieselben Zeitungen, die er vor Wochen, vor seiner Abreise, gelesen hatte? Dieselben Schlagzeilen, die dieselbe Frage aufwarfen, über demselben Foto. Wann würde Blair zurücktreten? Morgen? Unmittelbar nach der nächsten Wahl, vorausgesetzt, er gewann sie? Nach einem Jahr, oder zwei, oder erst am Ende einer vierten Amtszeit? Und war das hier nicht exakt dieselbe Zahl von Schiiten, die Al Qaida in Bagdad abgeschlachtet hatte, als sie um Brot anstanden? Davon abgesehen (Beard wühlte sich durch seinen Stapel) hatte der Tsunami über eine Viertelmillion Menschenleben gefordert, was einige - wie auch schon im Monat zuvor - an der Existenz Gottes zweifeln ließ. An anderer Stelle wurde das Land wie eh und je für bankrott erklärt: Regierung, Finanzen, Gesundheitssystem, Justiz, Bildungseinrichtungen, Militär, Verkehrswesen und öffentliche Moral, alles sei endgültig am Ende. Aus Gewohnheit suchte er nach Artikeln über den Klimawandel. Fehlanzeige. Sonnenenergie? Auch nichts - das würde sich bald ändern.
    Er legte die Zeitungen auf den Sitz neben sich, nahm seinen Palmtop und scrollte sich durch die fünfzehn Nachrichten, die seit dem Abflug von Berlin Tegel aufgelaufen waren. Vierzehn hatten mit seinem Projekt zu tun. Toby Hammer, sein amerikanischer Partner, bestätigte den Eingang der Dokumente am Grosvenor Square. Der Ranchbesitzer wollte das Geld für die Option auf ein Konto in El Paso und nicht auf das in Alamogordo überwiesen haben. Die örtliche Handelskammer ersuchte höflich um eine »sauberere« Schätzung der Zahl der Arbeitsplätze, die dank der Anlage für die Bürger von Lordsburg geschaffen würden. Immer wenn er

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