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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Seine lächerliche Phantasie wucherte noch weiter, entwickelte zärtliche Gefühle für ihren von Geburt an nutzlosen linken Arm. Sie würde beim Essen nur eine Gabel in der rechten Hand halten; und er würde selbstverständlich dasselbe tun.
    Als ihm die Einladung schon auf den Lippen lag, wandte sie den Blick von ihm ab, demjenigen hinter ihm in der Schlange zu. Ihr Lächeln verschwand, während sie »Der Nächste« rief.
    Das war die Schwäche, mit der er leben musste, sein Handicap, diese infantilen Gedankenspielchen, die in der Regel zu gar nichts führten, ihm gelegentlich Schwierigkeiten und nur sehr selten Erfolg einbrachten. Andererseits hatten ähnliche Träumereien - manische Momente, aufflackernde Hirnstürme, verdichtete, wenn auch im Vagen bleibende Augenblicke, in denen sich das Tatsächliche mit dem Unwirklichen verband, kunterbunte Perlenschnüre, auf denen sich Unmögliches, Unerhörtes und Widersprüchliches ohne eine vorgefertigte Logik aufreihten - ihn vor langer Zeit auf sein Theorem gebracht. Poesie, Wissenschaft, Erotik - was kümmerte es die Phantasie, welchem Herrn sie diente?
    Er eilte durch die Gepäckausgabe, vorbei an den quietschenden Förderbändern und Scharen von Leuten, die sich unter den digitalen Anzeigetafeln langweilten, durch den menschenleeren Zoll, vorbei an dem unheimlichen Einwegspiegel und den langen Tischen aus Edelstahl, die ihn immer an Leichenschauhäuser erinnerten, vorbei an den übermüdeten Chauffeuren und ihren Tafeln - Kuwait Baloon Adventures, Bishop Dolan, Ted of Mr Kipling - und durch die Abflughalle, wobei ihm durchaus bewusst war, dass er weder direkt auf die Treppe zum unterirdischen Bahnhof zuhielt noch geradewegs den heruntergekommenen Flughafenshop ansteuerte, in dem es Zeitungen, Koffergurte und derlei mehr zu kaufen gab. Würde er wie immer schwach werden und dort reingehen? Doch wohl kaum. Aber seine Route bog sich dorthin. Als Intellektueller war er eine Art öffentliche Person, er musste informiert sein, es war nur verständlich, dass er sich eine Zeitung kaufte, ganz gleich, wie sehr die Zeit drängte. In Situationen, in denen wichtige Entscheidungen anstanden, war das Gehirn mit einem Parlament vergleichbar, einem Plenarsaal. Fraktionen lagen miteinander im Widerstreit, kurz- und langfristige Interessen trafen unvereinbar aufeinander. Anträge wurden eingebracht und abgelehnt, manche Petitionen wurden nur vorgelegt, um andere durchzubringen.
    Manche Sitzungen verliefen stürmisch, und doch spielte die Musik hinter den Kulissen.
    Er kannte diesen Laden nur zu gut, offenbar marschierte er jetzt genau darauf zu. Er würde nur mal einen Blick hineinwerfen, seine Willensstärke auf die Probe stellen, eine Tageszeitung kaufen und sonst nichts. Ginge es bloß um Pornoerzeugnisse, denen er zu widerstehen versuchte, wäre sein Scheitern nicht weiter schlimm. Doch Bilder von Mädchen oder deren Körperteilen erregten ihn nicht mehr sonderlich. Sein Problem war etwas viel Banaleres als eingeschweißte Herrenmagazine. Jetzt stand er an der Kasse und suchte zwischen den Euros in seiner Hand die Pfundmünzen heraus, unterm Arm vier Tageszeitungen, nicht nur eine, als könnte exzessives Verhalten in dieser Sache ihn gegen die andere immunisieren, und während er sie hinüberreichte, damit der Barcode eingescannt werden konnte, schimmerte ihm am Rand seines Blickfeldes, aus den Reihen unterhalb der Theke, jenes Ding entgegen, das er haben wollte, das Ding, von dem er nicht wollte, dass er es haben wollte, ein ganzes Dutzend davon nebeneinander, und ohne sich eigens dazu zu entschließen, nahm er eins - so leicht! - und legte es auf den Stapel seiner Zeitungen, mitten auf ein Foto des Premierministers, der winkend vor einem Kirchenportal stand.
    Es handelte sich um eine Tüte aus Kunststofffolie mit hauchdünnen, salzbestäubten, in Öl gesottenen Kartoffelscheiben, industriell angereichert mit Konservierungsstoffen, Geschmacksverstärkern, hydrolytischen Enzymen, Treibmitteln, Säureregulatoren und Farbstoffen. Chips mit Salz-und-Essig-Geschmack. Er war noch pappsatt vom Mittagessen, aber dieses spezielle chemische Festmahl war in Paris, Berlin oder Tokio nicht aufzutreiben, und jetzt lechzte er danach, nach der acidischen Schärfe dieser dreißig Gramm - wie der Schuss eines Drogendealers. Ein letztes Mal, danach würde er den Stoff nie mehr anrühren. Er sah gute Chancen zu widerstehen, bis er im Zug nach Paddington saß. Er schob die Tüte in eine Tasche

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