Solar
chemischen Zusätze brachten vielleicht seinen Stoffwechsel auf Trab. Weniger sein Magen, vielmehr sein Gaumen freute sich auf den säuerlichen Geschmack des Pulvers, mit dem die zarten Scheibchen bestäubt waren. Er hatte Beherrschung bewiesen - der Zug war schon vor mehreren Minuten losgefahren -, doch jetzt gab es keinen vernünftigen Grund mehr, sich länger zurückzuhalten.
Er stemmte sich nach vorn und legte die Ellbogen auf den Tisch; das Kinn in die Hände gestützt, ließ er den Blick nachdenklich auf der grellbunten Tüte ruhen, silbern, rot und blau, auf der lustige Tierfiguren unter einem Union Jack tollten. Wie kindisch von ihm, alles, was er haben wollte, sofort haben zu müssen; diese Zügellosigkeit, eine ungesunde Schwäche, die schuld an allem war, wozu er sich je hatte hinreißen lassen. Er nahm die Tüte in beide Hände und riss sie oben auf. Sogleich strömte ihm der klebrige Duft von Bratfett und Essig entgegen: der raffiniert im Labor nachgebaute Geruch des Fish-and-Chip-Shops an der Ecke, eine Inszenierung schöner Erinnerungen und Sehnsüchte und nationaler Identität. Die Flagge auf der Tüte war natürlich kein Zufall. Er fischte mit Daumen und Zeigefinger einen einzelnen Chip heraus, legte die Tüte auf den Tisch und ließ sich zurücksinken. Jemand wie er wusste zu genießen. Der Trick bestand darin, den Chip auf der Zungenmitte zu platzieren und ihn, nachdem der köstliche Geschmack sich ausgebreitet hatte, mit kräftigem Druck am Gaumen zu zermalmen. Nach seiner Theorie verursachte die schartige Oberfläche winzige Abschürfungen in der weichen Gaumenhaut, in die Salz und Chemikalien eindrangen, was einen gelinden und doch spürbaren, genussvollen Schmerz auslöste.
Er hatte die Augen geschlossen wie ein Spitzensommelier bei einer großen Verkostung. Als er sie wieder aufschlug, traf ihn der graublaue Blick des Mannes gegenüber. Nur mäßig beschämt, winkte Beard ab und schaute woandershin. Ihm war klar, wie er ausgesehen haben musste: ein dicker alter Trottel, der heftig mit einem Kartoffelchip flirtete. Er hatte sich benommen, als sei er allein. Na und? Solange er niemandem schadete und keinen Anstoß erregte, war das sein gutes Recht. Was andere von ihm dachten, kümmerte ihn schon lange nicht mehr. Das war einer der wenigen Vorteile des Älterwerdens. Nur um sich zu behaupten, und nicht, um seine verächtlichen Gelüste zu befriedigen, streckte er die Hand aus und nahm sich noch einen Chip, und wieder starrte der andere ihn an: ungerührt, durchdringend, ohne lockerzulassen. Beard kam der Gedanke, dass er es mit einem Psychopathen zu tun haben könnte. Und wenn schon. Vielleicht hatte er selbst auch etwas von einem. Der salzige Rückstand des ersten Chips fühlte sich wie Zahnfleischbluten an. Er sank in seinen Sitz zurück, machte den Mund auf und wiederholte das Ganze, nur dass er diesmal die Augen offen ließ. Naturgemäß war der zweite weniger pikant, weniger überraschend, weniger eindringlich als der erste, und genau diese Differenz, dieser minder starke Geschmack, weckte das auch Drogensüchtigen bekannte Bedürfnis, die Dosis zu erhöhen. Als Nächstes würde er zwei Chips auf einmal einwerfen.
Er sah auf, und in diesem Moment beugte sein Mitpassagier sich vor, fixierte ihn mit diesem unheimlichen Blick und pflanzte, vielleicht in bewusster Parodie, seine Ellbogen auf dem Tisch auf. Dann senkte er einen Unterarm wie einen Kran auf die Tüte hinab, bemächtigte sich eines Chips, vermutlich des größten im ganzen Päckchen, betrachtete ihn kurz und verschlang ihn, nicht genüsslich wie Beard, sondern mit unverschämt übertriebenen Kaubewegungen, die Lippen halb offen, so dass man den Brei auf der Zunge sehen konnte. Dabei schaute der Mann ihn unverwandt an, ohne auch nur einmal zu blinzeln. Sein Benehmen war so ungebührlich, so empörend, dass Beard, der auch nicht gerade auf den Kopf gefallen war - wie wäre er sonst an den Nobelpreis gekommen? -, nur in Schockstarre verharren und versuchen konnte, seine Würde zu wahren, indem er ohne die leiseste Regung mit ausdruckslosem Gesicht sitzen blieb.
Die beiden Männer fixierten sich. Beard war entschlossen, nicht als Erster den Blick abzuwenden. Keine Frage, das Verhalten des anderen war aggressiv, was er getan hatte, war nackter Diebstahl, auch wenn es nur um eine Kleinigkeit ging. Und falls es zu einer Prügelei käme, läge Beard zweifellos binnen Sekunden mit gebrochenem Arm oder Schädel am Boden. Vielleicht aber
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