Solar
irgendetwas falsch gelegen, oder die ganze Zeit richtig? Hatte er, Beard, jemanden angegriffen, oder war er das Opfer? Wer war doch gleich verhaftet worden? Damals, als der Sturm losbrach, erzählte ihm ein Kollege, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Computersimulation, das Foto, auf dem der Nobelpreisträger in Handschellen durch eine johlende Menge geführt wurde, sei von vierhundertdreiundachtzig Tageszeitungen gebracht worden. Beard erinnerte sich gut daran, seine Demütigung war um den ganzen Planeten gegangen, doch außer ihm schien sie niemandem mehr gegenwärtig zu sein. Neuer Stoff hatte das Gedächtnis der Öffentlichkeit umnebelt, frische Skandale, Sportereignisse, Geständnisse, Krieg, Prominentenklatsch und der Tsunami hatten seine Geschichte verdrängt. Ein zwölf Monate lang stetig anschwellender Strom hatte ihn an ein ruhiges Ufer gespült.
Selbst seine eigene Erinnerung an die Ereignisse - wie es sich angefühlt hatte - löste sich allmählich auf. Das Medieninteresse hatte Schwindelgefühle und Verunsicherung bewirkt. Doch zum Glück war der Schandfleck auch für ihn nur noch ein verschwommenes Wasserzeichen. Nur gewisse Einzelheiten blieben scharf, die Erinnerung daran wachgehalten durch Weitererzählen. Er fand, Anekdotisches nahm einem Gespräch die Ernsthaftigkeit, und doch konnte er ein ums andere Mal der Versuchung nicht widerstehen. Im Gegensatz zu dem, was man in Kriminalromanen lese, lägen Handschellen keineswegs wie kalter Stahl auf der Haut, dozierte er gern. Seine seien vorgewärmt gewesen, da die betreffende Polizistin sie einen Vormittag lang in ihrer Polizeiweste getragen habe. Als unheimlich empfinde man die Intimität, mit der sie sich um die Handgelenke schmiegen, die Körperwärme, die sich einem mitteile. Oder das Klischee, wonach in jedem Pressebericht zu irgendeinem Thema, mit dem man sich auskannte, mindestens eine entscheidende Tatsache falsch dargestellt war. Nach seiner Erfahrung traf das nicht zu. Vielmehr staunte er über die Unmenge unwiderlegbarer Fakten, die man über ihn in Erfahrung gebracht hatte. Verzerrt wurden sie erst dadurch, wie man sie platzierte und unter ihnen Zusammenhänge herstellte, Millimeter außerhalb der Reichweite von Verleumdungsklagen. Ihn beeindruckte auch die Recherchearbeit, der Fleiß, mit dem diese rastlosen Zeitungsfritzen binnen weniger Tage tief in die dunklen Regionen, die Slums seines überbevölkerten Privatlebens eingedrungen waren und dem älteren Bruder seiner dritten Frau, einem nahezu taubstummen Einsiedler, der Beard noch nie ausstehen konnte und der ohne Telefon an einem Feldweg auf einer menschenleeren Halbinsel im Nordwesten von Bruny Island vor der Küste Tasmaniens lebte, im Handumdrehen ein buntes Bouquet boshafter Bemerkungen entlockt hatten.
Die Presse betrachtete Beards Leben als eine Art Papierkorb. Ein paarmal geschüttelt, und schon ließen sich alle möglichen halbvergessenen Schnipsel zutage fördern. Ein Service, für den man bei anderer Gelegenheit vielleicht dankbar wäre. Unabhängig voneinander weigerten sich seine Exfrauen, Maisie, Ruth, Eleanor, Karen und Patrice, die Guten, mit der Presse zu reden. Das rührte ihn sehr. Von den ehemaligen Geliebten waren die meisten loyal, nur ein paar Unentwegte meldeten sich zu Wort: eine Laborassistentin, eine Bürokauffrau. Und zwei Wissenschaftlerinnen, Nieten, Nullen, alle beide. Faszinierenderweise traten auch einige Hochstaplerinnen auf den Plan. Kaum erklangen die Posaunen des Jüngsten Gerichts, kroch ein versprengter Trupp Exgeliebte und Möchtegerne aus Gräbern und Katakomben ans Licht; sie traten vor ihren Schöpfer, einen mit Schecks wedelnden Journalisten, und brandmarkten Beard als Frauenhasser, Ausbeuter und miesen Hund.
Mit Loyalität und dem Mantel des Schweigens war es nicht getan. Die Berichterstattung grub alles aus. Er blieb der Spielball der Presse, bis endlich ein Fußballskandal die Aufmerksamkeit von ihm ablenkte. Eine Titelseite brachte ihn als Karikatur, als lüsternen Bock, der, mit angewinkeltem Huf an die Schlagzeile gelehnt, die Käufer lockte: »Heute im Innenteil: Beards Frauen«. Noch während er verzagten Herzens die Zeitung aufschlug und die Galerie der Gesichter überflog, darunter Kolleginnen, alte Freundinnen, sämtliche Ehefrauen, Melissa, regte sich etwas in ihm, und eine Stimme in seinem Innern, die sich nicht unterkriegen ließ, sagte ihm, in diesen drei oder vier Jahrzehnten habe er sich doch gar nicht schlecht gehalten, alle
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