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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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steckte hinter dieser Grobheit und dem Spott des Jüngeren über das alberne Vergnügen des Älteren an diesem Junkfood noch etwas anderes, ein Köder. Provozierte er ihn, wie es die Situationisten früher mit den Spießbürgern getan hatten? Oder, schlimmer, hielt der Bursche Beard für schwul, und sein Verhalten war ein Annäherungsversuch, eine Anmache, die nur in gewissen Kreisen verbreitet war, denen seine violette Seidenkrawatte - nur mal angenommen - zufälligerweise signalisierte, dass er sich bereitwillig verführen lassen würde? Hatte nicht früher ein Ohrring im linken oder im rechten Ohr - er wusste nicht mehr, in welchem - als eindeutiges Zeichen der sexuellen Orientierung gegolten? Dieser Mann hatte in jedem Ohr gleich zwei. Mit Licht kannte der Physiker sich aus, doch was moderne Codes anbelangte, tappte er im Dunkeln. Schließlich kam Beard auf seinen ursprünglichen Gedanken zurück, ob sein Mitpassagier womöglich aus einer psychiatrischen Anstalt entlaufen war, um statt Lithium mal wieder Drogen zu nehmen, in welchem Fall es keine gute Idee wäre, ihm weiter in die Augen zu starren. Also wandte er den Blick ab und tat das Einzige, was ihm einfiel. Er nahm noch einen Chip.
    Was hatte er erwartet? Kaum lag der Chip auf seiner Zunge, griff die Hand des anderen wieder zu, und diesmal nahm er zwei, genau wie Beard selbst es vorgehabt hatte, und kaute so frech und ordinär darauf herum wie auf dem ersten. Die Tüte einfach vom Tisch zu nehmen wäre bestimmt keine gute Idee - zu demonstrativ, zu abrupt. Ein gefährliches Wagnis, das zu einem Handgemenge führen könnte. Würde ihm jemand zu Hilfe eilen, wenn es dazu käme? Beard sah sich im Abteil um. Leute lasen oder starrten, blind für das Drama, ausdruckslos ins Leere oder aus dem Fenster in die winterlichen Westlondoner Vororte. Wen interessierten schon zwei Männer, die sich schweigend einen Snack teilten? Es war paradox, doch Beard schien es am vernünftigsten, das Begonnene einfach fortzusetzen. Er dachte gar nicht daran, einer Konfrontation mit dem Stärkeren aus dem Weg zu gehen, indem er nachgab und ihm die ganze Tüte überließ. Beard würde sich nicht einschüchtern lassen. Er mochte klein und übergewichtig sein, aber er hatte einen gutentwickelten Sinn für Gerechtigkeit und stand seinen Mann. Das konnte bis zur Waghalsigkeit gehen und hatte ihn nicht selten schon in arge Schwierigkeiten gebracht. Er nahm sich noch eine frittierte Kartoffelscheibe. Sein Widersacher starrte ihn an und tat es ihm nach. Dann noch einmal, und noch einmal langten ihre Hände nacheinander, eher bedächtig als hastig, in die Tüte, ohne sich je zu berühren. Als nur noch zwei Chips übrig waren, nahm der junge Mann die Tüte an sich und hielt sie Beard mit spöttischer Höflichkeit hin. Auf diese letzte Kränkung gab es nur eine Antwort: Beard wandte sich ab, empört.
    Der Zug wurde langsamer, Leute griffen nach ihren Mänteln, eine Computerstimme erinnerte die Passagiere daran, beim Aussteigen nicht ihr Gepäck zu vergessen. Der junge Mann besiegelte seinen Triumph, indem er die Tüte mit der Faust zusammenknüllte und in den Abfallbehälter unterm Tisch stopfte. Dann wischte er sorgfältig die Krümel und Salzkörner vom Tisch. Beards Demütigung war vollkommen. So war das, wenn man älter wurde, wenn man von den Jungen und Kräftigen herumgeschubst wurde und nichts dagegen unternehmen konnte. In einer Aufwallung von Selbstmitleid erkannte er, dass alle Ungerechtigkeiten aller Zeiten, alle Formen von Unterdrückung, unrechtmäßiger Invasion oder willkürlicher Gewaltherrschaft und alle tyrannischen Übergriffe sich in diesem einen Augenblick verdichteten und dass es nicht nur ein Gebot der Selbstachtung, sondern auch seine Pflicht im Kampf für die Benachteiligten dieser Erde war, sich jetzt irgendwie zur Wehr zu setzen. Sonst würde er sich nie mehr in die Augen sehen können. Er schoss nach vorn, schnappte die Wasserflasche seines Gegners, schraubte den Deckel ab, begann gierig zu trinken - Durst hatte er sowieso - und schüttete die zweihundertfünfzig Milliliter bis zum letzten Tropfen in sich hinein. Dann warf er die Flasche auf den Tisch und sah den anderen trotzig und herausfordernd an. Der blaue Schraubverschluss rollte auf den Boden.
    Der junge Mann überlegte kurz, stand auf, trat in den Gang und richtete sich zu seinen ganzen ein Meter neunzig auf. Beard bereute seine Auflehnung längst und blieb sitzen, fest entschlossen, nicht von seinem Platz zu

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