Solar
weichen. Der Mann griff nach oben, lüpfte Beards Koffer aus dem Gepäcknetz und stellte ihn mit einer geschmeidigen Bewegung seines muskulösen Oberarms behutsam vor seinem Besitzer auf den Boden. Falls das Reue signalisieren sollte, ließ Beard sich nicht davon beeindrucken, er verzog den Mund zu einer verächtlichen Grimasse. Sein Gegner zögerte einen Moment und sah irgendwie besorgt oder mitleidig auf den älteren Mann hinunter, dann drehte er sich um und schritt davon.
Beard gewährte ihm ausreichend Vorsprung, bevor er sich erhob. Er wollte den Kerl nie mehr wiedersehen. Erst eine volle Minute später trat er auf den Bahnsteig hinaus. Er zitterte ein wenig, vor Wut oder Schreck oder ein wenig von beidem, jedenfalls hatte er Schwierigkeiten, in seinen Mantel zu kommen - ein Ärmel hatte sich im Gürtel verheddert. Auch ein Schuhband war aufgegangen. Als er niederkniete, um es zuzubinden - seine Finger gehorchten ihm noch nicht ganz wieder -, fielen ihm seine Zeitungen ein, die er im Zug vergessen hatte; nun gut. Mehr oder weniger gefasst ging er den Bahnsteig hinunter auf die Sperre zu. Und dann kam jener Moment, der ihm künftig bei jeder Rückbesinnung auf seine Vergangenheit, beim leisesten Gedanken an sein bisheriges Leben, an die eigene Fehlbarkeit und die Motive anderer vor Augen stehen sollte: Wenige Meter vor der Sperre blieb er stehen. Er stellte den Rollkoffer ab und griff unter seinem Mantel in die Jacketttasche, um die Fahrkarte herauszunehmen. Doch da war noch etwas anderes, aus Folie, gebauscht, sehr leicht, knisternd. Eine Kindheitserinnerung an ein Dorffest stieg vage in ihm auf, die Vorführung eines Zauberers, der aus dem Ohr des zehnjährigen Michael Beard ein Ei, ein Huhn oder ein Kaninchen hervorgeholt hatte, irgendetwas physikalisch Unmögliches, genau wie dies hier: seine Chips, die er eben erst aufgegessen hatte. Er zog die Tüte heraus und starrte sie wie vom Donner gerührt an, den Union Jack, die herumtollenden Tiere - sie wollten und wollten sich nicht in Luft auflösen. Und die andere Tüte? Eine Flut von Neubewertungen jedes einzelnen Augenblicks stürzte über ihn herein, jeder einzelnen Regung, jeder Nuance im Verhalten jenes Mannes, den er nie mehr hatte wiedersehen wollen, und nicht zuletzt des Eindrucks, den er, Beard, gemacht haben musste - den eines bösartigen Irren.
Er war so komplett auf dem Holzweg gewesen, dass ihn ein Gefühl grenzenloser Erleichterung überkam. Es gab keine Ausreden, nichts daran zu deuteln. Beinahe entrang sich ihm ein Hohnlachen. Sein Irrtum war so eindeutig, so absolut, er hatte sich dermaßen vor sich selbst als Narr entlarvt, dass er sich erlöst und geläutert fühlte wie ein bußfertiger Sünder, wie ein mittelalterlicher Geißler mit frisch geschundenem Rücken. Der arme Kerl, dem du Essen und Trinken gestohlen hast, der dir seinen letzten Bissen angeboten und dein Gepäck heruntergehoben hat, war ein Menschenfreund. Doch halt, die Pein des Zurückschauens musste er sich für später aufheben.
Die Zeit drängte, er musste zu seinem Vortrag, und doch harrte er noch eine ganze Weile auf dem belebten Bahnsteig aus; die Chipstüte an die Brust gedrückt, stand er inmitten der Passagiere im hallenden Lärm unter dem hohen Glasdach und fühlte sich - zu Unrecht - von tiefer Erkenntnis durchdrungen.
Im Taxi von Paddington zum Savoy ermahnte er sich, vorsichtig zu sein, damit es zu keinem weiteren Zwischenfall kam; er sollte gleich eine Rede halten und sich in der Konferenzpause danach, so verlangte es sein Vertrag, unter die Leute mischen, wobei es durchaus passieren konnte, dass er auf Journalisten traf, Männer und Frauen, die äußerlich intelligenten Menschen glichen, im Innern aber eiskalte Raubtiere waren. Sie wussten aus Erfahrung, dass man ihn zu Indiskretionen verleiten konnte oder zu weitschweifigen Hypothesen - war es nicht seine Pflicht, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen? -, die sich gedruckt - ohne die Konjunktive, Einschränkungen und angestellten Gedankenspiele - nur noch übergeschnappt oder blödsinnig ausnahmen. Eine spekulative Bemerkung hatte ihm bereits die Schlagzeile eingebracht: »Nobel-Prof: Untergang naht«.
Sein eigener Untergang schien vor einem Jahr besiegelt, aber seltsamerweise wussten nur noch die wenigsten davon. Es war fast so, als hätte man ihm verziehen. Jeder wusste, da war mal was gewesen, Michael Beards Name war durch den Blätterwald gerauscht, aber die Einzelheiten verblassten. Er hatte mit
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