Solar
ein Journalist ihn kühn - eher in Form einer hingeworfenen, gehässigen Bemerkung als im Brustton der Überzeugung - in die Nähe eines Neonazis. Kein Mensch nahm das auch nur für eine Sekunde ernst, doch konnten nun andere Zeitungen diesen Ausdruck aufgreifen, auch wenn sie ihn nicht für zutreffend hielten und die Beleidigung vorsorglich in Anführungszeichen setzten. Und so wurde Beard zum »Neonazi«-Professor.
In einer eher linken Zeitung vertrat jemand die These, bei den wichtigsten Unterschieden zwischen Männern und Frauen handele es sich um gesellschaftliche Konstrukte. Beard monierte in einem leicht sarkastischen Leserbrief - sechs Zeilen, für die er vier Stunden und unzählige Anläufe gebraucht hatte -, warum bitte schön Männer immer noch nicht schwanger werden könnten, daran sei wohl auch einzig die Gesellschaft schuld. Der Brief wurde abgedruckt, aber niemand schien Notiz davon zu nehmen.
Eine Woche später veranstaltete dieselbe Zeitung im Institute of Contemporary Art eine Podiumsdiskussion mit Beard, Temple und anderen zum Thema »Frauen und Physik«. Inzwischen war Beard fest entschlossen, die Öffentlichkeit über seine wahren Ansichten aufzuklären. Neben ihm auf dem Podium saßen diverse Geisteswissenschaftler, fast nur Männer, und alle feindselig. Aus ungeklärten Gründen war Frau Professor Temple nicht erschienen, sie hatte stattdessen eine Kollegin geschickt. Wo aber waren all die Naturwissenschaftler abgeblieben? Seine diesbezügliche Frage an die Veranstalter vor Beginn der Diskussion blieb unbeantwortet. Als wisse niemand Bescheid.
Der Große Saal war ausverkauft. In einem Nebenraum verfolgten weitere Zuschauer die Debatte auf Bildschirmen. Die Berichterstattung in den Medien hatte ihr Werk getan, jetzt wollten die Leute das neuzeitliche Monster mit eigenen Augen sehen und ihrer Abscheu Ausdruck geben. Ein Raunen ging durch die Menge, als Beard sich zum Reden erhob. Während um ihn herum das verächtliche Stöhnen immer lauter anschwoll, wiederholte er seine Argumente und zitierte noch einmal dieselben Untersuchungen aus der Kognitionswissenschaft, diesmal jedoch ausführlicher. Als er Metaanalysen erwähnte, nach denen Mädchen im Durchschnitt sprachlich begabter seien als Jungen, gab es hämische Zwischenrufe, ja einer der Podiumsteilnehmer sprang mit wutverzerrtem Gesicht auf und beschimpfte ihn für den »plumpen Objektivismus, mit dem er die gesellschaftliche Dominanz der weißen männlichen Elite zementieren und befördern« wolle. Diese Darlegung wurde, kaum hatte er sich wieder gesetzt, mit einem Jubelgebrüll begrüßt, als stünde eine Revolution bevor. Beard war verwirrt, er verstand den Zusammenhang nicht. Was sollte das? Als er später in gereiztem Ton in die Runde hinein fragte, ob sie auch die Schwerkraft für ein gesellschaftliches Konstrukt hielten, wurde er ausgebuht, eine Frau im Publikum stand sogar auf und riet ihm oberlehrerinnenhaft, einmal über die »hegemonistische Arroganz« seiner Frage nachzudenken. Was bilde er sich ein? Welche geheime Machtverteilung in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung berechtige ihn zu der Annahme, die Frage in dieser Form stellen zu dürfen? Er war perplex, ihm fiel keine Antwort ein. »Hegemonistisch« wurde häufig als Schimpfwort benutzt. Genau wie »reduktionistisch«. Wütend erklärte er, ohne Reduktionismus sei keine Wissenschaft möglich. Als ein Zuhörer dies mit einem »Exakt!« parierte, wurde er dafür mit anhaltendem Gelächter belohnt.
Nancy Temples Vertretung war Susan Appelbaum, Gastdozentin aus Tel Aviv und Kognitionspsychologin. In ihrem rotblauen Gewand wirkte sie zierlich wie ein Vögelchen, wozu auch ihre zwitschernde Stimme passte. Es machte sie nervös, vor Publikum zu sprechen, und so war ihr Einstieg eher unbeholfen. Im Saal herrschten Misstrauen und Verwirrung. Aus Sicht der Zuhörer, die in allen Fragen einer Meinung zu sein schienen, sprach einiges für und einiges gegen sie. Als Frau stellte sie einen kläglichen Hegemon dar (Beard reimte sich den Begriff allmählich zusammen), und ihr mangelndes Selbstbewusstsein machte sie zu einer noch kläglicheren Erscheinung. Immerhin wurde nach wenigen Minuten klar, dass sie gegen Beard argumentierte. Andererseits war sie Jüdin, israelische Staatsbürgerin, und unterdrückte folglich Palästinenser. Womöglich war sie Zionistin, womöglich hatte sie in der Armee gedient. Kurz: Je länger sie redete, desto feindseliger wurde die Stimmung im Saal. Dieses
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