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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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postmoderne Publikum hatte höchst empfindliche Antennen für politisch Unkorrektes. Sein Herz wurde zu Eis, wenn keine korrekten Meinungsäußerungen von korrekter Seite es erwärmten. Die Lady aus Tel Aviv war eindeutig reaktionär und teilte obendrein einige Grundannahmen mit Beard. Sie war eine Anhängerin des Objektivismus, insofern sie überzeugt war, dass die Welt unabhängig von der Sprache existiert, die sie beschreibt; reduktionistischen Analysen war sie nicht abhold, sie war Empirikerin und bekannte sich stolz zum Rationalismus der Aufklärung, was, wie Beard aus dem missbilligenden Stöhnen der Zuhörer schloss, als rückwärtsgewandt, womöglich gar als hegemonistisch galt. Es gebe tatsächlich, erklärte sie mit Nachdruck, so etwas wie biologische Geschlechtsunterschiede in unserem Erkenntnisvermögen, doch unser Urteil sollte nur auf empirischen Daten beruhen. Auch gebe es so etwas wie die menschliche Natur, und die sei durchaus auch das Ergebnis der Evolution. Wir kämen nicht als unbeschriebenes Blatt zur Welt. Am Ende dieser Einleitung hatte die allgemeine Aufmerksamkeit merklich nachgelassen.
    Nicht viele hörten Appelbaum noch zu, als sie sich Beards Argumente vornahm. Sie kannte alle von ihm zitierten Untersuchungen und eine Menge mehr. Einige hatte sie selbst durchgeführt. Das Ergebnis war eindeutig: Es gab keine signifikanten Unterschiede im kognitiven Bereich, die Männern zu einem Vorteil in Mathematik oder Physik verhalfen. Abweichungen zwischen Jungen und Mädchen, Männern und Frauen zeigten sich erst in komplexen Testverfahren, die den Versuchspersonen mehr als einen Lösungsweg anboten: Hier träfen Männer und Frauen selten dieselbe Wahl. Was hingegen die Menschen-Dinge-Unterscheidung anbelangte: Dieses Schema sei ein Mythos und habe bei einigen schlecht konzipierten, aber häufig zitierten Experimenten zu verzerrten Ergebnissen geführt. Gesellschaftliche Einflüsse träten in den Untersuchungen hingegen sehr deutlich zutage - Wahrnehmungs- und Erwartungsmuster fielen wesentlich stärker ins Gewicht als objektiv messbare Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Die Experimente, die sie im Folgenden anführte, hätten ihren Zuhörern gefallen müssen, aber die kapierten es nicht, weil sie nicht aufpassten. Experimente, bei denen Säuglinge willkürlich einen Jungen- oder Mädchennamen zugeteilt bekamen, woraufhin Erwachsene aufgefordert wurden, deren Verhalten zu beschreiben. Oder Eltern sollten vorhersagen, wie ihre Kinder bestimmte Aufgaben lösen würden. Oder man bat Akademiker, fiktive männliche und weibliche Kandidaten mit identischen Qualifikationen zu beurteilen. Die so gewonnenen statistisch signifikanten Daten, erklärte Appelbaum, zeigten eindeutig, dass das Geschlecht ein starkes Bewertungskriterium sei. Es gebe da einige gutdokumentierte, sich selbst verstärkende Denkschleifen - zum Beispiel würden sich Leute in Bereichen bewerben, wo bereits »ihresgleichen« tätig sei und sie mehr Aussicht auf Erfolg zu haben meinten.
    Als Appelbaum zu ihrer Schlussfolgerung kam, hatte Beard den Eindruck, er allein höre ihr noch zu: Das postmoderne Publikum interessierte sich offenkundig weder für Statistik noch für Anekdotisches. Sie erwähnte Fanny Mendelssohn, die als musikalisches Wunderkind galt, nicht weniger begabt als ihr Bruder Felix. Bekanntlich habe ihr Vater ihr in einem Brief erklärt, für ihren Bruder möge die Musik zum Beruf werden, für sie aber könne und solle Musik stets nur Zierde sein, etwas für sonntags. Auch habe man vor hundert Jahren zahlreiche »wissenschaftliche« Gründe vorgebracht, warum Frauen nicht Arzt werden könnten. Selbst heute noch herrschten große unbewusste oder unabsichtliche Unterschiede dabei, wie Jungen und Mädchen, Männer und Frauen eingeschätzt und beurteilt würden. Empirische Untersuchungen hätten gezeigt, dass diese kulturellen Einflüsse von der Wiege bis zur ersten Stellenbewerbung und darüber hinaus sehr viel mehr Bedeutung hätten als biologische Faktoren. Es liege auf der Hand, warum es so wenig Physikerinnen gebe.
    Niemand klatschte, als sie sich setzte. Doch die Erleichterung war groß, dass sie endlich fertig war. Zehn Minuten später war alles vorbei. Beard strebte direkt dem Ausgang zu, er fühlte sich begnadigt. Manche hätten vielleicht gesagt, er habe soeben eine ordentliche Abreibung erhalten. Andere, dass er den Sieg davongetragen habe. Woher sollte er das wissen? Er war Physiker, kein Kognitionspsychologe.

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