Solar
studieren. Die Kognitionspsychologie habe durch großangelegte Experimente statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen nachgewiesen. Damit sei nicht gesagt, betonte er, dass ein Geschlecht dem anderen überlegen sei, und es gehe hierbei auch nicht um Fragen der Sozialisation, obwohl die natürlich verstärkend wirke. Es handele sich vielmehr um häufig beobachtete, angeborene Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten. Aus zahlreichen Analysen und Metaanalysen wisse man, dass Frauen im Allgemeinen über eine größere Sprachbegabung und ein besseres visuelles Gedächtnis verfügten, sie seien stärker in Algebra und im Wahrnehmen von Emotionen. Männer erzielten mehr Punkte bei der Lösung mathematischer Probleme, beim abstrakten und räumlichen Denken. Männer und Frauen setzten unterschiedliche Prioritäten im Leben und hätten unterschiedliche Einstellungen zu Risiko, Status und Hierarchien. Vor allem jedoch, und das sei der wirklich bemerkenswerte, in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesene Unterschied - man könne geradezu von einer Standardabweichung sprechen -, zeigten Mädchen vom frühesten Lebensalter an tendenziell ein größeres Interesse an Menschen, Jungen hingegen an Dingen und abstrakten Regeln. Und dieser Unterschied manifestiere sich denn auch in den Wissensgebieten, denen sie sich widmeten. In den Bio- und Sozialwissenschaften gebe es mehr Frauen, in Ingenieurwissenschaften und Physik mehr Männer.
Beard spürte, dass die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer erlahmte. Ausdrücke wie »Standardabweichung« hatten bei Journalisten immer diese Wirkung. In den hinteren Reihen führten einige Privatgespräche. Einem soigniert aussehenden Reporter in der ersten Reihe waren die Augen zugefallen. Beard mühte sich, zum Schluss zu kommen. Gewiss müsse noch viel getan werden, um mehr Frauen für die Physik zu gewinnen und dafür zu sorgen, dass sie sich dort willkommen fühlten. Es sei aber auch eine Zukunft denk bar, in der man die Erhöhung des Frauenanteils als Ressourcenvergeudung erachtete, wenn Frauen nun einmal andere Fächer bevorzugten.
Die Journalistin, die die Frage gestellt hatte, nickte benommen. Hinter ihr meldete sich jemand mit einer Frage zu einem anderen Thema zu Wort. Der Vormittag wäre wie jeder andere in Vergessenheit geraten, hätte sich nicht in diesem Augenblick die Professorin für Wissenschaftsforschung plötzlich erhoben, ihren Stapel Papiere mit lautem Knall auf Kante gebracht und mit hochrotem Kopf allen im Saal verkündet: »Bevor ich rausgehe und kotze, und zwar gewaltig kotze nach dem, was ich mir da eben anhören musste, erkläre ich meinen sofortigen Rücktritt aus Professor Beards Komitee.«
Damit marschierte sie zum Ausgang, begleitet vom Stimmengewirr und Stühlerücken der Journalisten, die sämtlich von ihren Sitzen sprangen. Endlich in ihrem Element, begeistert, gierend nach Information, von Wettbewerbseifer beseelt, eilten sie ihr nach.
Während der Saal sich leerte, beugte sich Professor Jack Pollard, der Spezialist für Quantengravitation aus Newcastle, der vor nicht allzu langer Zeit die Reith-Vorlesungen gehalten hatte und Bescheid zu wissen schien, zu Beard hinüber und sagte ihm ins Ohr: »Da sind Sie aber schön ins Fettnäpfchen getreten. Die Frau ist eine Vertreterin der Postmoderne, eine beinharte Sozialkonstruktivistin, für sie ist der Mensch bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt und wird ausschließlich von seiner Umwelt geprägt. So sind die heutzutage. Gehen wir einen Kaffee trinken?«
Damals ahnte Beard nichts von der Tragweite des Gan zen. Sein erster Gedanke war, das sei keine Art, seinen Rücktritt zu erklären. Und sein zweiter, noch viel klarerer Gedanke: Er sollte so schnell wie möglich von hier verschwinden, auch wenn es ihn den Tratsch mit Pollard kostete. Unter anderen Umständen hätte er sich gern für ein Stündchen mit ihm ins Cafe gesetzt. Beide waren Teil eines Zirkels internationaler Spezialisten, dessen Zusammensetzung sich nur durch Tod oder Fahnenflucht einzelner Mitglieder änderte; sie alle waren in Eifersucht, Zuneigung und Besitzdenken miteinander verbunden und hatten seit den heroischen Tagen der klassischen String-Theorie auf der Suche nach dem Heiligen Gral, der Vereinigung der fundamentalen Kräfte mit der Gravitation, gemeinsam die Welt bereist. Schließlich hatten sie die Grenzen der Strings erkannt und sich auf Superstrings und die heterotische String-Theorie geworfen, um sich
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