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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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daran entlang in den Mutterschoß der M-Theorie zu hangeln. Mit jedem Durchbruch ergaben sich neue Probleme, Widersprüche und physikalische Unwahrscheinlichkeiten. Zehn Dimensionen, und dann - glaubte man den Vertretern der Supergravitation - sogar elf! Dimensionen, die fest um sechs Kreise gewickelt waren, die Wiederentdeckung von Kaluza und Klein aus den zwanziger Jahren, die phantastische Kompliziertheit der Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten und Orbifolds! Und das einzigartige Drama des Universums in der ersten Hundertstelsekunde seiner Existenz! Beard hatte nichts Kreatives zu all dem beigetragen und verfügte nicht ganz über die nötigen mathematischen Kenntnisse, aber natürlich kannte er den Klatsch. Und die Witze - zum Beispiel den von dem String-Theoretiker, der mit einer anderen Frau im Bett erwischt wird und seiner Frau zuruft: »Liebling, ich kann alles erklären!« Der Weg war steinig, das Ziel lag immer noch in weiter Ferne. Man bewegte sich am äußersten Rand dessen, was der menschliche Verstand zu fassen vermochte, und war doch nur ein fehlbarer Sterblicher. Wie der Theoretiker, der seine todkranke Frau vernachlässigte und dennoch mit seinen Überlegungen nicht weiterkam. Oder der namenlose Nobody, der dank eines Geistesblitzes Gedankenknoten durchschlug und dabei seine Gesundheit ruinierte. Die berühmte Konferenz, auf der versehentlich eine graue Eminenz nicht gewürdigt wurde. Oder der arschkriecherische Mittelmäßige, der das Superstipendium bekam. Das Zerwürfnis zweier Giganten, die einst Seite an Seite im Labor gestanden hatten.
    Ja, er hätte zu gern den neusten Klatsch gehört, aber er spürte, es braute sich etwas über ihm zusammen, das sich wie sich herabsenkende Dunkelheit oder so ähnlich anfühlte. Er hatte sich in die Nesseln gesetzt und sollte das Weite suchen, bevor er alles noch schlimmer machte. Hastig entschuldigte er sich bei Pollard und den anderen, nahm seine Aktentasche und verließ den Saal, durchquerte die Vorhalle und schritt durchs Hauptportal ins Freie. Die Sonne und das Hintergrundrauschen der Stadt beruhigten ihn ein wenig. So wie ein Bergblick, der alles andere kleiner werden lässt. Vielleicht war das Ganze nur viel Lärm um nichts. Im Vorbeigehen schnappte er ein paar Satzfetzen von der Pressekonferenz auf, die Nancy Temple auf offener Straße gab, Versatzstücke, die sie hochtrabend im Munde führte. »... Neuauflage der Rassenhygiene ... verheerende Behauptungen über die Natur des Menschen... neoliberale Attacke auf das Gemeinwesen ...« Knackige Sprüche für die Boulevardblätter. Einige der Journalisten in dem Pulk funktionierten das Dach eines geparkten Autos zum Schreibtisch um, andere gaben die Story bereits telefonisch durch. Vermutlich ahnte Nancy Temple nicht, dass ein Gutteil der Aufregung der Regierung galt. Einer der Ausschüsse war in Schwierigkeiten. Blairs nächste Pleite.
    Beard ignorierte die Stimmen, die seinen Vornamen riefen, und überquerte die Straße. Niemals der Presse private Informationen preisgeben. Als er tags darauf unter der Schlagzeile »Nobel-Prof sagt nein zu Labormiezen« lesen durfte, er habe »in Schimpf und Schande kapituliert«, musste er sich fragen, ob er sich ihnen nicht doch besser gestellt hätte.
    Anfangs schien es, als sei der Geschichte kein langes Leben beschieden. Nach einer kleineren Eruption von Schlagzeilen war es zwei Tage lang ruhig. Schon glaubte er es überstanden zu haben. Doch in dieser Zeit stellte eine Boulevardzeitung fleißig Nachforschungen an. Und am Samstag wurde Beards »Liebesleben« enthüllt und kunstvoll mit dem Thema »Nein zu Mädchen in weißen Kitteln« verflochten. Am Sonntag legten die anderen Zeitungen nach und machten aus ihm einen »Betten-Forscher«, »Rammel-Prof« und eine Art akademischen Satyr: »Professor Bock«. Auch auf den Mordfall Aldous wurde angespielt, nur Beards frühere Rolle als harmloser, weltfremder Hahnrei, naiver Trottel und Opfer einer flatterhaften Frau ließ man der Einfachheit halber unerwähnt. Jetzt war er der Niederträchtige, der reihenweise Frauen verführte und ihnen gleichzeitig den Zugang zur Wissenschaft verwehrte.
    Seriösere Zeitungen bezeichneten ihn als einen Physiker, der zum Anhänger des »genetischen Determinismus« geworden sei, einen fanatischen Soziobiologen, dessen Vorstellungen von den Geschlechtern man indirekt auf den Sozialdarwinismus zurückführte, der wiederum die Rassentheorie des Dritten Reichs hervorgebracht hatte. Und schon rückte

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