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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Zum Glück hatte sich hier im Institute of Contemporary Art der Hass nicht hochgeschaukelt. Diese Leute würden sich von einer Israelin nichts vorschreiben lassen. Das war gewiss nicht schön, aber was wollte man machen? Er hatte noch einmal Glück gehabt, sie hatten ihn nicht in Stücke gerissen. Als er durch den Korridor ging, wichen alle prompt beiseite, so dass er binnen Sekunden den Ausgang zur Mall erreichte und in den strahlenden Sonnenschein hinaustrat. Dort empfingen ihn etwa dreißig Demonstranten mit Sprechchören und Plakaten - Nein zur Rassenhygiene! Nazi-Professor raus! -, ein Dutzend Presseleute, hauptsächlich Kameramänner, und vier Angehörige der Londoner Polizei.
    Vielleicht wäre die Sache glimpflich abgelaufen, hätte Beard den Saal nicht so hochgestimmt verlassen. Unter den Demonstranten war ein halbes Dutzend ältere Frauen. Eine von ihnen kam hinter einem Polizisten hervor, nahm eine Tomate aus einer braunen Papiertüte und warf damit nach Beard. Aus nur drei Metern Entfernung, zum Wegducken blieb keine Zeit. Faule Tomaten - so die gängige Vorstellung. Diese jedoch war zwar weich, sah aber noch äußerst genießbar aus. Sie klatschte an sein Revers und verweilte dort einen Moment. Als sie hinunterplumpste, fing er sie auf und warf sie zurück - eine völlig spontane, spielerische Geste, wie zum Spaß, wie er hinterher zu erklären versuchte, ganz gewiss nicht böse gemeint. Warum sonst hätte er den Wurf so lässig ausgeführt? Die inzwischen aufgeplatzte Tomate traf die Frau mitten ins Gesicht, rechts neben der Nase. Die Frau, etwa in Beards Alter und ähnlich füllig, stieß ein wehleidiges Jaulen aus, schlug die Hände vors Gesicht, schmierte dabei das Ganze noch breit und sank gleichzeitig in die Knie.
    In Farbe ergab das ein dramatisches Bild. Von hinten aufgenommen, zeigte es Beard riesenhaft über einer am Boden kauernden Frau, Opfer eines blutrünstigen Anschlags. Eine deutsche Zeitschrift brachte es auf der Titelseite unter der Schlagzeile: »Demonstrantin von >Neonazi-Professor< niedergestreckt«. Im Hintergrund gerade noch zu erkennen war das passende Transparent. Ein weiteres, über den Kopf der knienden Frau hinweg aufgenommenes und ebenfalls oft nachgedrucktes Foto offenbarte Beards herzloses Grinsen. Er hatte es sich nicht verkneifen können. Die Tomate war so weich, sein Wurf so sanft, die Reaktion der Frau so komisch übertrieben - und wie eifrig sich der eine Polizist über sie beugte, wie wichtigtuerisch ein anderer per Funk einen Krankenwagen rief. Echtes Straßentheater. Eine Polizistin fasste Beard am Arm und erklärte mit tonloser Stimme, sie verhafte ihn wegen Körperverletzung. Eine zweite Polizistin rückte seitlich an ihn heran und presste ihre Schulter gegen seine, um ihm zu verstehen zu geben, dass Widerstand zwecklos war. Die Handschellen, köstlich vorgewärmt vom Körper der jungen Frau, schlossen sich unter dem Jubel der Demonstranten um seine Handgelenke. Ein halbes Dutzend Fotografen ging rückwärts vor ihm her, als er abgeführt und zu einem an der Mall geparkten Streifenwagen gebracht wurde. Während der Wagen losfuhr, liefen sie mit hektischem Schuhgetrappel nebenher und knipsten Beard im kriminellen Dunkel auf der Rückbank.
    Das Polizeiauto fuhr an der National Portrait Gallery vorbei weiter die Charing Cross Road hoch und hielt schließlich vor der Buchhandlung Foyles. Die Polizistin, die ihn festgenommen hatte und neben ihm saß, schloss die Handschellen auf, während ihre Kollegin auf dem Fahrersitz sich umdrehte und sagte: »Sie können jetzt gehen, Sir.«
    »Ich denke, man wirft mir Körperverletzung vor.«
    »Wir haben Sie lediglich zur Wahrung der öffentlichen Ordnung mit Geleitschutz entfernt. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
    »Wie aufmerksam von Ihnen, mir vor der Presse Handschellen anzulegen.«
    »Sehr freundlich, dass Sie das sagen, Sir. Wir tun nur unsere Arbeit. Trotzdem danke, Sir.«
    Man hielt ihm die Autotür auf, und dann stand er allein vor der Buchhandlung und fragte sich, ob er ein Buch brauchte. Nein. Er kehrte in seine Wohnung zurück, legte sich nachdenklich in die Wanne mit dem Schmutzrand und besah durch die Dampfwolken den Archipel seines zerrissenen Selbst - Bauchgebirge, Penisspitze, die ungebärdigen Zehen -, verstreut über ein seifengraues Meer. Er sagte sich, dass die Dinge oft gar nicht so schlimm sind, wie man meint. Das stimmte. Aber manchmal sind sie schlimmer: Ein fast schon erloschener Skandal war neu entfacht

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