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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ihn mit einem Ehrendoktortitel zu locken, dann meldete sich das Caltech in Pasadena, und ein paar alte Freunde beim Massachusetts Institute of Technology wollten ihn über den Atlantik holen.
    Wie großmütig die Öffentlichkeit doch war, und wie gern sich die Hochschulen mit dem Glanz eines Nobelpreisträgers schmückten, der das Räderwerk der Subventionsbeschaffung schmierte!

    Das Taxi kurvte um Trafalgar Square und geriet auf The Strand in einen Stau; er war mehr als anderthalb Stunden zu spät. Nach fünf Minuten stand er immer noch an derselben Stelle. Seit vier Stunden, erkannte er plötzlich, hatte er nichts anderes als diesen Zeitdruck im Kopf, und plötzlich ertrug er es nicht mehr, zur Bewegungslosigkeit verdammt zu sein. Er schob eine Zwanzig-Pfund-Note durch den Schlitz in der Trennscheibe, stieg aus, nahm sein Gepäck und marschierte los, Richtung Savoy. Zu Fuß kam er womöglich noch später an, aber zu handeln wie ein Mann, der es eilig hatte, war auf jeden Fall besser, als nur zu denken wie einer. Er hastete mit seinem Rollköfferchen vorwärts, überholte andere Fußgänger, drängte sich durchs Gewühl: Endlich hatte er die Bewegung, die er sich seit Jahren verschaffen wollte. Reichlich zerzaust, der Knoten seiner violetten Krawatte verrutscht, der teure Wollanzug zerknittert, der Mantel zu warm für die heutigen englischen Winter und vom Koffer in Schräglage gebracht, konnte er immer nur ein Bein ungehindert nach vorne schwingen, während er das andere steif nachziehen musste - er hüpfte The Strand hinunter wie ein dickes Kind auf einem Springstock.
    Und schon verspürte er ein beunruhigendes Stechen in der Brust, tief unten in einer vernachlässigten Region seines linken Lungenflügels, irgendwo zwischen den seltener beatmeten Lungenbläschen. Er ging langsamer. Keine Konferenz war es wert, dafür zu sterben. Der Verkehr kam wieder in Fluss, und sein nun leeres Taxi schoss an ihm vorbei, während er sich Richtung Hotel vorwärtsschleppte.
    Im Foyer erwarteten ihn zwei der Veranstalter. Der Jüngere nahm Beards Rollkoffer, der andere, ein Greis im Blazer, das Gesicht voller Altersflecken, einer Totenmaske gleich, tippte auf seine Uhr und geleitete ihn dann, schwer auf seinen Stock gestützt, die Treppe hinauf.
    »Alles in Ordnung«, krächzte der Alte unter der Anstrengung, sein Körpergewicht durch das luxuriöse Gravitationsfeld zu hieven. »Wir haben den Ablauf umgestellt. Sie sind in fünf Minuten dran.«
    Beard vernahm das guten Mutes. Schon fühlte er sich neben seinem Begleiter wieder jung und unangreifbar und genoss es, über den dicken Teppich zu schreiten; auch das Stechen in seiner Brust war weg.
    Ein anderer Offizieller, jünger, aber von höherem Rang und indischer Herkunft, empfing ihn vor einer prächtigen offenen Doppeltür, durch die das Stimmengewirr der Teepause drang. Nach dem üblichen Vorgeplänkel - eine große Ehre, verbindlichsten Dank, sehnlichst erwartet, keine Umstände wegen der Verspätung - erläuterte ihm der junge Mann, dessen Namen, Saleel, Beard von einigen E-Mails her in Erinnerung hatte, die Zusammensetzung des Publikums: Männer und Frauen von verschiedenen Institutionen, ein paar Beamte, ein paar Akademiker, keine Journalisten.
    Doch Beard hörte nicht sehr aufmerksam zu, sein Blick war von Saleels Gesicht über die in ein dunkles Jackett gehüllte Schulter des jungen Mannes hinweg zu der redseligen Menge im Empfangsraum gewandert. Er sah, umrahmt von hohen Fenstern mit Blick auf die eindunkelnde Themse, weißgedeckte Tische mit rechteckigen Porzellanplatten, auf denen sich bauchige Canapes aus krustenlosem Weißbrot türmten. Sogar aus dieser Entfernung erkannte er die fetten rosa Streifen der Räucherlachsfüllung. Kunstvoll über die Tische verstreut lagen Zitronenscheiben, verführerisch lächelnde gelbe Münder, denen niemand im Saal viel Aufmerksamkeit schenkte. Nicht dass er in diesem Augenblick wirklich Hunger hatte, er empfand nur das, was er für sich selbst Vorhunger nannte. Das heißt, er malte sich aus, wie angenehm es in weniger als einer Stunde sein könnte, sich einige dieser Happen auf einen Teller zu laden und sie mit Blick auf den Fluss zu verzehren. Ebenso leicht konnte er sich vorstellen, wie groß sein Bedauern wäre, falls - und das war nur allzu wahrscheinlich - die Platten schon am Ende der Teepause abgeräumt würden, während sein Vortrag begann. Sicherer, jetzt gleich ein paar davon zu essen.
    Saleel sagte gerade: »Alles

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