Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
steuerte sie ihn durch den entfesselten Sturm. Nur die Vernunft ließ sie nicht an ihre Liebe heran. Sonst wäre ihre Affäre im Handumdrehen vorüber gewesen. Beunruhigt stellte er fest, dass sie eine dieser Frauen war, die nur einen Mann lieben konnten, den man retten musste. Am besten einen viel älteren. Gehörte er in eine Reihe mit ihrem Exmann und den verflossenen Liebhabern, dieser traurigen Riege von ältlichen Strohköpfen, Taugenichtsen, Nieten, Rüpeln - Ausbeuter allesamt -, bei denen ihre Fürsorge nichts gefruchtet hatte, die ihr allesamt ein Kind versagt hatten? Keiner von ihnen hatte mit dem König von Schweden getafelt, und doch gehörten sie zum selben Gefolge. Verhalf er ihr als Einziger zum Erfolg, würde ihn das ehren, doch er fühlte sich dieser Mission nicht gewachsen. Auch er würde sie um ein Kind betrügen.
    »Warum ich?«, fragte er einmal, als er vom Beischlaf träge neben ihr auf dem Rücken lag. Die Frage schien ihm überfällig, zumal er damit beiläufig andeutete, dass er sich nicht für den Richtigen hielt.
    »Darum«, lautete ihre Antwort, und schon setzte sie sich rittlings auf ihn und brachte ihn wieder hoch, ihren korpulenten, schwerfälligen Michael, der lange geglaubt hatte, eine Zugabe innerhalb einer halben Stunde sei mittlerweile Lichtjahre von ihm entfernt.
    Sie besaß eine Ladenkette - falls drei Filialen schon eine Kette waren - mit Tanzkleidung im Norden von London. Nicht nur Profitänzer waren ihre Kunden, sondern auch alle möglichen Amateure, darunter junge Mütter, die keine Lust mehr auf Yoga hatten, und sogar Männer in Beards Alter, die sich in einem letzten Anflug von Jugendlichkeit auf Stepptanz oder Tango verlegten. Das Fundament dieses kaum rentierenden Geschäfts bildeten jedoch die allzeit jungen Träumerinnen, eine Generation um Generation nachwachsende Schar angehender Balletteusen - kleine Mädchen mit der altmodischen Sehnsucht, sich in Ballettröckchen, Strumpfhosen, Leggings und Ballerinas unter dem strengen Blick einer ehemaligen Primadonna - rauhe Schale, weicher Kern - vor dem Spiegel an der Stange abzustrampeln. Der Traum von harter Arbeit auf Brettern, die die Welt bedeuten, vom ersten Auftritt, vom schwerelosen Sprung vor staunendem Publikum, dieser Traum hatte das elektronische Zeitalter, Mädchenbands und Fernseh-Soaps überlebt, ja er blieb so intakt, als vererbe er sich genetisch. Das kleinste Ballettröckchen in Melissas Lager hätte einem Mädchen von zwölf Monaten gepasst. Die Mütter erinnerten sich ihrer eigenen Träume und gaben nicht selten viel Geld aus, um sie in ihren Kindern stellvertretend zu verwirklichen.
    Dennoch blieb es ein riskantes Geschäft, in der modernen Welt auf Tanz zu setzen. Es unterlag heftigen Schwankungen, ähnlich wie Warentermingeschäfte, doch Melissa musste stets lieferbereit sein. Irgendeine Fernsehdokumentation, und plötzlich strömten eine Woche lang vierhundert Männer in ihre Läden und verlangten ein bestimmtes Hemd, in dem sie Tango tanzen wollten. Ein Film, ein Musical, ein Videoclip auf mtv konnten eine ebenso exzessive wie kurzlebige Nachfrage entfachen. Eine Klopapierreklame mit ein paar Ausschnitten aus Schwanensee - schon kamen mehr kleine Mädchen als je zuvor, nur wollten sie jetzt Strumpfhosen in Regenbogenfarben, Leggings im Laufmaschenlook oder ein kunstvoll zerrissenes Trikot, genau wie die Sachen in der Werbung. Zwischendurch gab es Durststrecken, wenn niemand tanzte außer Tänzern und dem harten Kern der kleinen Träumerinnen und niemand auch nur aussehen wollte wie ein Tänzer, dann konnte Melissa nur abwarten. Sinnlos, sagte sie, irgendwelche Voraussagen zu treffen.
    Um die Schwankungen abzupuffern, peppte sie ihre Läden auf. Die Achtjährigen, die zum Ballett wollten, stellten nur einen Bruchteil ihrer Altersgruppe dar. Nicht nur sie, sondern alle in diesem Alter hatten eine unerklärliche Vorliebe für die Farbe Rosa. Nicht irgendein Rosa, sondern ein ganz bestimmtes weiches, zuckriges Babyrosa. Alle drei Läden widmeten dieser zarten Verlockung einen Teil ihrer Schaufensterfläche. Als Beard Melissa eines Samstagmorgens im Laden aufsuchte, wurde er Zeuge der seltsamen Macht, die dieser schmale Ausschnitt aus dem elektromagnetischen Spektrum auf eine Schar kreischender Mädchen ausübte. Wer stand dahinter, was brachte sie dazu, allesamt nach rosa Bleistiften und Spitzern zu lechzen, nach rosa Turnschuhen, Bettbezügen, Haarspangen, Ranzen oder Briefpapier? Mit pedantischem Eifer

Weitere Kostenlose Bücher