Solar
ernst nehme, man an nichts anderes mehr denken könne. Alles andere werde bedeutungslos. Genau deshalb, vertraute sie ihm an, könne sie sich das Thema, wie alle ihre Bekannten, nicht so zu Herzen nehmen, jedenfalls nicht gar so sehr. Der Alltag lasse es nicht zu. Manchmal zitierte er diese Erklärung in seinen Vorträgen.
Von ihren früheren Liebhabern sprach sie mit einer Offenheit, bei der ihm die Spucke wegblieb. Aus ernsthaften Beziehungen zu Gleichaltrigen hatte sie sich nie etwas gemacht. Die Männer, von denen sie erzählte, waren alle fünfzehn bis zwanzig Jahre älter als sie. Bis auf einen, der noch sehr viel älter war. Mit zwanzig hatte sie ein Jahr lang eine Affäre mit einem Golfprofi, einem verheirateten Mann von sechsundfünfzig Jahren. Jetzt war er Mitte siebzig, und die beiden hatten immer noch Kontakt. Ihr Faible für ältere Partner hatte eine Vorgeschichte. Als Einzelkind am Clapham Common im Süden Londons aufgewachsen, hatten ihre Eltern sich scheiden lassen, als sie elf war. Sie liebte ihren Vater und lebte bei ihrer Mutter, mit der sie oft Streit hatte. Als ihre Mutter den letzten einer ganzen Reihe »unausstehlicher« Freunde heiratete, zog Melissa um die Ecke zu ihrem Vater, der kurz darauf einen Schlaganfall erlitt. Von ihrem vierzehnten Lebensjahr an pflegte sie ihn (intim, denn er war fast vollständig gelähmt) bis zu seinem Tod vier Jahre später. Sie erzählte Beard, was ein befreundeter Therapeut ihr Vorjahren erklärt hatte. Da sie sich in einer wichtigen Phase ihrer sexuellen Entwicklung um ihren geliebten Vater gekümmert habe, ohne ihn am Leben erhalten zu können, werde sie von Schuldgefühlen gedrängt, Beziehungen einzugehen, die ihr den Vater ersetzten: Sie wolle ihn aus dem Grab zurückholen, ihn aus seinem Unglück retten und ihr Versagen wiedergutmachen.
Beard hingegen fühlte sich zu der Annahme gedrängt, genau um ihn vor solchem Unsinn zu schützen, sei die Naturwissenschaft erfunden worden. Aber er sagte nichts. So viele ungeprüfte Voraussetzungen, so viele unbewiesene Vermutungen! Ein Unbewusstes, das, raffiniert getarnt, Schicksal spielte, gespickt mit absurder Symbolik? Dafür gab es nicht den geringsten neurologischen Beweis. Verdrängung? Empirisch hatte man einen solchen Mechanismus bisher nicht nachgewiesen. Im Gegenteil, unangenehme Dinge waren besonders schwer zu vergessen. Sublimierung? Auch so ein Märchen, das einer ernsthaften Untersuchung nicht standhalten konnte. Dass sie sich um die intimsten Bedürfnisse ihres Vaters hatte kümmern müssen, hätte ebenso gut lebenslangen Abscheu vor älteren Männern in ihr wecken können, und das hätte man dann mit ähnlich anmaßenden Freud'schen Phrasen erklärt. Viele Frauen, die nie einen sterbenden Vater gepflegt oder irgendeine vergleichbare Erfahrung gemacht hatten, zogen ältere Männer vor. Und warum waren Melissas Liebhaber (mit der einen Ausnahme) nur fünfzehn oder zwanzig Jahre älter als sie, wo doch ihr Vater siebenunddreißig war, als sie geboren wurde? War ihr auf anderen Gebieten so akkurat arbeitendes Unbewusstes nicht mal zu einer simplen Addition imstande?
Die Wahrheit war einfacher. Frauen kannten sie im Grunde ihres Herzens. Da er zu taktvoll war, es ihr auf den Kopf zuzusagen, konnte er nur sich selbst damit beruhigen. Routiniert sein hatte sein Gutes. Altere Männer waren die besseren Gefährten, sie waren erfahrene Liebhaber, sie kannten die Welt, sie kannten sich selbst. Im Gegensatz zu jungen Männern hatten sie ihre Gefühle im Griff. Sie hatten mehr gelesen, mehr gesehen, sie waren herzlicher, bemühten sich mehr, waren nicht so angeberhaft und gewalttätig, dafür toleranter. Sie waren interessanter, kannten sich aus mit Wein. Sie hatten mehr Geld. Und doch verdross ihn die Vorstellung, dass sie sich nicht zu ihm als Mann hingezogen fühlen könnte, sondern zu irgendeinem Inbegriff des älteren Beschützers, dem er halbwegs entsprechen mochte. Nicht weniger verdross ihn die Erkenntnis, dass ihre erste große Liebe, der fremdgehende Golfer, als sie ihn kennenlernte, im selben Alter war wie ihr Vater in seinem Todesjahr.
Er nahm ein Taxi von The Strand nach Primrose Hill und klingelte fünfundzwanzig Minuten zu früh in der Fitzroy Street. Einen Schlüssel besaß er nicht - das war eine Grenze, die er nicht überschreiten wollte. Schon auf der Schwelle, in dem Moment, bevor sie sich umarmten, hatte er den Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Oder etwas war anders, sie war anders.
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