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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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und ein paar Jahre später vom Volksmund erneut in Umlauf gebracht wird. Der Dieb wider Willen war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Amerika weit verbreitet. Hier bei uns trat er erstmals in den fünfziger Jahren auf, Anfang der Siebziger allerorten. Der Schriftsteller Douglas Adams hat Mitte der achtziger Jahre eine Version davon in einen Roman eingearbeitet. Auch er behauptete steif und fest, er habe dies auf einer Zugfahrt selbst erlebt - das ist eine weitere Konstante. Die Geschichte wird stets als persönliches Erlebnis - das man selbst oder ein Freund gehabt hat - hingestellt und mit glaubwürdigem Lokalkolorit versehen. Dies, um sich von der Urform zu unterscheiden; so wird ein Original daraus und man selbst zum Urheber. Der Dieb wider Willen geistert durch Erzählungen von Jeffrey Archer und, soweit ich weiß, von Roald Dahl; die bbc und der Guardian haben sie als wahre Begebenheit rapportiert. Mindestens zwei Filme fußen darauf - The Lunch Date und Boeuf Bourguignon, und dann gibt es noch...«
    »Ich muss Sie leider enttäuschen«, sagte Beard. »Aber meine Erfahrung gehört mir, nicht Ihrem vermaledeiten kollektiven Unbewussten.«
    Doch der autistische Folkoreforscher ließ sich nicht beirren. »Ja, das Neue an Ihrer Version sind die Chips. Ich kenne die Geschichte mit Keksen, Äpfeln, Zigaretten, ganzen Kantinenmahlzeiten, aber nicht mit Chips. Wenn Sie nichts dagegen haben, bringe ich das in der nächsten Ausgabe des Modernen Mythos. Selbstverständlich, ohne Ihren Namen zu erwähnen.«
    Doch Beard hatte ihm längst den Rücken gekehrt und berührte einen Kellner am Ellbogen.
    Der bleiche Pensionsfondsmanager mit dem Schnauzbärtchen schaltete sich ein: »Diese Geschichten machen also die Runde wie schmutzige Witze.«
    »Exakt.«
    »Haben Sie das mit dem Parkplatzwächter vom Zoo in Bristol gehört? Vierundzwanzig Jahre lang kommt der...«
    Beard antwortete dem Kellner: »Das ist mir egal, nur kein Single Malt. Einen Dreifachen, pur, mit Eiswürfel, und zwar schnellstmöglich.«
    Es war Viertel vor sieben. Nur noch dreizehn Minuten, dann war sein Vertrag erfüllt. Gleich würde er ihn in Händen halten: den ersten anständigen Drink des heutigen Tages. Angesichts dieser Aussicht fühlte er sich besser. Und angesichts eines Abends mit Melissa. Er verließ sich darauf, dass der Kellner dieses Edelhotels ihn schon suchen würde, und brachte sich vor Mellon in Sicherheit, der sich mittlerweile über Unterformen von unbescholtenem Diebstahl ausließ; da unterhielt er sich doch lieber mit einem leutseligen Derivatehändler am anderen Ende des Raums.

    Sie war schön, sie war interessant, sie war gut (ein wahrhaft lauterer Mensch), was also war falsch an Melissa Browne? Er brauchte über ein Jahr, um das herauszufinden. Sie hatte so etwas wie einen Splitter im Auge, wie wenn eine Luftblase in einer Fensterscheibe ist: Ihre Sicht auf Michael Beard war verzerrt, sie meinte, er eigne sich für die Rolle des guten Ehemanns und Vaters. Und das war eine unverzeihliche Fehleinschätzung. Sie kannte seine Vorgeschichte, sie verfügte über jede Menge Beweismaterial und ausreichend Verdachtsmomente, und doch verharrte sie in ihrem Wahn, sie könne ihn bekehren, einen gütigen, ehrlichen, liebevollen und vor allem treuen Mann aus ihm machen. Wenn er sie recht verstand, ging es ihr nicht darum, ihn kurz vor Beginn seines siebten Lebensjahrzehnts in einen neuen Menschen zu verwandeln, vielmehr wollte sie ihn in seinen natürlichen Zustand zurückführen, zu seinem wahren Ich, das ihm verlorengegangen war. Nicht, dass sie das je offen aussprach. Ebenso wenig wie sie ihn mit Schikanen oder Verboten zum Abnehmen brachte. Vielmehr versuchte sie - mit liebevoll zubereiteten, gesunden, köstlichen Mahlzeiten - ihm jene Figur zurückzugeben, die er mit dreißig gehabt hatte: seine platonische Gestalt. Und sollten ihre Rezepte versagen, würde sie ihn eben nehmen, wie er war.
    Sie tolerierte seine häufigen Abwesenheiten, die Funkstille, wenn er im Ausland war, weil sie fest daran glaubte, dass er am Ende ihre Sicht der Dinge übernehmen werde. Sie hatte ohnedies selbst alle Hände voll zu tun. Ihr unerschütterlicher Optimismus war rührend. Beard, kein Schurke durch und durch, fühlte sich schuldig. Inmitten des Presseskandals, der ihn in einem so schlechten Licht zeigte, hatte sie unbeirrbar zu ihm gestanden. Ja diese Unbill schien sie in ihrer Liebe noch zu bestärken. Mit der ganzen Leidenschaft einer vernünftigen Frau

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