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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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machte er den Aufsatz eines angesehenen Hirnforschers aus Newcastle ausfindig, der einen geschlechtsbedingten Unterschied in der Empfindlichkeit der Netzhaut festgestellt zu haben glaubte, wobei Frauen das rote Ende des Spektrums bevorzugten. Eine hinreichende Erklärung für den samstäglichen Ansturm auf den Laden war dies allerdings nicht, auch nicht dafür, dass Melissa ihre Schulden bei der Bank innerhalb eines Jahres drastisch drücken konnte. Durch Rosa aus den roten Zahlen! Doch dann war der Zauber plötzlich verflogen, die Farbe verbraucht. Über Nacht benötigten Mädchen keine rosa Sachen mehr. Nicht mal mit Riesenrabatten ließen sich die Ladenhüter noch loswerden. Vollkommen rätselhaft. Wo blieb die jüngere Generation kleiner Schwestern, die eine Schwäche für Rosa hätte? Nicht etwa, dass eine andere Farbe in Mode kam. Farbe als solche war nicht mehr gefragt. Rosa verschwand von der Bildfläche, doch immerhin war Melissa bereit, als es später wiederauftauchte.
    Trotz dieser Unwägbarkeiten, trotz alltäglicher Scherereien mit Angestellten und Lieferanten war Dance Studio, wie die Ladenkette hieß, für Beard eine Oase unschuldiger Sehnsüchte und Freuden. Als er einmal in die Filiale in Primrose Hill kam, um Melissa zum Mittagessen abzuholen, wartete er auf einem Hocker im Hintergrund und nahm das Ganze in sich auf: Lenochka, die Verkäuferin mit schwarzgefärbter Igelfrisur, Zungenpiercing und russisch angehauchtem Cockneyslang, Tschaikowski als Hintergrundmusik, der Sandelholzduft - alles widmete sich mit über jeden Spott erhabener Hingabe den Kindern und verspielten Erwachsenen. Während er im Halbdunkel zwischen nicht fertig ausgepackten Pappkartons saß, gab er sich einem immer verführerischen Tagtraum hin (in fensterlosen Räumen passierte ihm das bisweilen); er malte sich aus, wie er den Übeln und Zänkereien der Welt den Rücken kehren und hier in diesem Hinterzimmer arbeiten würde, als Melissas Partner, geborgen im Lagerraum, vielleicht die Inventursoftware verbessern oder kleine Veranstaltungen planen würde, mit Vorträgen und Modenschauen, und so die Jahre in einem Taumel aus Sex und Stumpfsinn gemütlich dahinziehen lassen könnte, bis er eines Abends auf Melissas Geheiß - unerhört geschmackloser Traum! - Lenochka zu einem flotten Dreier auf dem großen Bett in Melissas tadellos aufgeräumter Wohnung in der Fitzroy Street überreden und endlich selbst herausfinden würde, wie es sich anfühlte, wenn man an intimster Stelle vom Fleisch einer schmuckbesetzten Zunge berührt wurde. Er staunte über sich selbst. Er könnte sein ganzes Leben hier verbringen und zwischen nicht einsortierten Leggings vor sich hin träumen.
    Das war die eine Oase. Die andere war Melissas Wohnung, zwei Minuten zu Fuß von der Filiale in Primrose Hill entfernt, schräg gegenüber dem Gebäude, in dem Sylvia Plath einst ihren Kopf in den Backofen gesteckt hatte, nachdem sie für ihre schlafenden Kinder Brot und Milch bereitgestellt hatte. Die Lyrikerin, den fünfziger Jahren treu, war eine fleißige Hausfrau, die ihr Reich prosaisch sauber hielt, genau wie Melissa. Beard hingegen war in Haushaltsdingen ein Chaot, ein reinlicher Mensch zwar, der sich wusch und eitel auf seine Kleidung achtete, aber mit Hingabe Unordnung verbreitete, und sei es unbewusst - ein von ihm fallen gelassenes Handtuch aufzuheben, eine Schublade oder Schranktür zu schließen oder eine Verpackung oder einen Apfelbutzen wegzuwerfen, dergleichen erschien ihm als ein ebenso großes Unterfangen wie ein Frühjahrsputz. Die Frau, die sich um seine Wohnung in Marylebone gekümmert hatte, war ohne ein Wort der Erklärung gegangen, doch konnte er sich schon denken warum und hatte keinen Ersatz mehr gefunden. Eleanor, seine dritte Frau, hatte einmal zwischen den Seiten einer wertvollen Erstausgabe einen vertrockneten Streifen Frühstücksspeck entdeckt, den er als Lesezeichen benutzt hatte.
    Wie viele Chaoten schätzte Beard die Ordnung, die andere, wie es schien, so mühelos zuwege brachten. In Melissas Wohnung, die sich über zwei Etagen erstreckte, fühlte er sich besonders wohl. Bei ihr zu Hause gab es keinerlei Schischi, vielmehr offene Durchblicke, die nicht von Möbeln verstellt waren. Die aus einem Chateau in der Gascogne stammenden fußbreiten Holzdielen waren mit Bienenwachs behandelt und schimmerten matt. Nichts lag herum, alle Bücher standen in der richtigen Reihenfolge in den Regalen - zumindest solange er nicht zu Besuch kam -,

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