Solar
Schlussfolgerungen kamen ihm läppisch vor. Was jetzt? Sein Körper wusste es genau. Er lockerte seinen Griff um das Rednerpult, drehte sich um und trat wie ein Schlafwandler durch den Spalt im Vorhang in einen düsteren Raum, der mit hohen Türmen aufeinandergestapelter Stühle vollgestellt war. Begleitet von beachtlichem Applaus, beugte er sich vor, um seine mit Fischöl gut geschmierte Bürde geräuschlos von sich zu geben. Er verharrte einige Sekunden in dieser Stellung und wartete auf mehr. Nein, das war alles. Dann ging er aufs Podium zurück, tupfte sich mit einem Taschentuch würdevoll die Lippen ab und nahm Saleels Dankesworte entgegen.
Die Pensionsfondsmanager und die übrigen Zuhörer kehrten in den Empfangsraum zurück, wo Kellner Wein servierten. Beard war vertraglich verpflichtet, sich für mindestens eine halbe Stunde unter das Publikum zu mischen. Er nahm ein Glas Chablis zur inneren Reinigung, während sich Krawatten mit Gesichtern darüber um ihn drehten. Wohlmeinend und höflich versicherte man ihm, wie »interessant«, gar »faszinierend« sein Vortrag gewesen sei, aber niemand dachte auch nur daran, seine Anlagestrategie zu ändern. Ein Vorredner, ein Ölanalyst, hatte den Anwesenden versichert, dass allein schon die heute bekannten Reserven, wenn man Olsand und Tiefseebohrungen berücksichtigte, für die nächsten fünf Jahrzehnte reichten.
Ein gespenstisch blasser junger Mann mit braunem Chaplin-Schnurrbart sagte: »Außerdem bestehen unsere Inseln hier praktisch komplett aus Kohle. Wenn es nicht um Idealismus geht, warum sollten wir dann das Geld unserer Klienten durch Investitionen in unausgereifte Formen der Energieversorgung aufs Spiel setzen?«
Doch darauf ergriff eine Frau für Beard Partei: »Die Steinzeit ist schließlich auch nicht aus Mangel an Steinen zu Ende gegangen.«
Er hatte diesen plumpen Scherz des Ölscheichs Yamani schon zu oft gehört, um noch mit den anderen mitzulachen.
Jemand meinte: »Großbritannien verfügt einfach nicht über genügend Sonne und Wind, um die Wirtschaft damit am Laufen zu halten.«
Und in Beards Rücken sagte jemand: »Wir sollen also Sonnenenergie von Nordafrika kaufen. Wo bleibt da die Energiesicherheit?«
Er ging auf diese Argumente ein und schlug ein zweites Glas Wein nicht aus, obwohl es Zeit für einen Whisky gewesen wäre; da tauchte plötzlich Mellon auf, der Folkloredozent, und wartete mit bebendem Bart nur darauf, sich einzumischen.
Bei der erstbesten Gelegenheit sagte er: »Ich wüsste zu gern, wo Sie diese Geschichte herhaben.«
»Welche Geschichte?«
»Sie wissen schon. Die mit dem Mann im Zug.«
»Das ist mir, wie gesagt, heute Nachmittag passiert.«
»Also wirklich, Professor Beard. Wir sind doch alles erwachsene Leute hier.«
Die Fondsmanager merkten, hier kam es zu einem Showdown, und drängten näher heran, um in dem Stimmengewirr nichts zu verpassen.
Beard sagte: »Ich kann Ihnen nicht folgen. Erklären Sie mir das genauer.«
»Sie haben die Geschichte hervorragend erzählt. Sie kam Ihnen aber auch wie gerufen.«
»Unterstellen Sie mir, ich hätte das frei erfunden?«
»Im Gegenteil. Es ist eine weitverbreitete, bestens erforschte Geschichte, von der es zahlreiche Abwandlungen gibt. Sie hat sogar einen Namen - Der Dieb wider Willen.«
»Ach ja«, sagte Beard kühl. »Wie interessant.«
»In der Tat. Es gibt ein paar konstante Merkmale. Zum Beispiel ist der zu Unrecht Beschuldigte fast immer ein Randständiger, eine irgendwie bedrohliche Gestalt - ein Zigeuner, ein Einwanderer, ein Punk, manchmal auch ein Behinderter. Ihr junger Muskelmann mit den Ohrringen passt genau ins Bild. Oft erweist der zu Unrecht Beschuldigte dem Dieb wider Willen eine Gefälligkeit, was den Moment der Wahrheit nur umso peinlicher macht. In Ihrem Fall ist er Ihnen mit dem Gepäck behilflich. Einer These zufolge spiegeln sich darin Unbehagen und Schuldgefühle wegen unserer ablehnenden Haltung gegenüber Minderheiten. Möglicherweise wirkt diese Geschichte in unserer Kultur als unbewusstes Korrektiv.«
»Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen«, sagte Beard gezwungen lächelnd, »dass dergleichen ab und zu einmal wirklich passiert, dass die Leute etwas erzählen, was ihnen zugestoßen ist? Im Zeitalter der Massentransportmittel werden die Leute nun mal auf engem Raum zusammengepfercht und haben Essbares in identischen Verpackungen bei sich.«
»Uns interessiert, wie eine solche Geschichte erst in aller Munde ist, dann plötzlich verlorengeht
Weitere Kostenlose Bücher