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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ganzen Welt ein Jahr lang decken. Ein Bruchteil der Wüstenfläche könnte unsere Zivilisation mit Energie beliefern. Niemand kann das Sonnenlicht besitzen, niemand kann es privatisieren oder verstaatlichen. Bald wird jeder es ernten können: von Dächern, Schiffssegeln, Kinderrucksäcken. Ich habe zu Beginn von Armut gesprochen - einige der ärmsten Länder der Welt sind reich an Sonnenlicht. Wir könnten ihnen helfen, indem wir ihre Megawatts kaufen. Auch unsere einheimischen Konsumenten werden sich darum reißen, Strom aus Sonnenlicht zu produzieren und ans öffentliche Netz zu verkaufen. Das liegt in ihrer Natur.
    Es gibt ein Dutzend bewährte Methoden, Strom aus Sonnenlicht zu gewinnen, aber die größte Erfindung haben wir noch vor uns, und die liegt mir besonders am Herzen. Ich rede von künstlicher Photosynthese, der Nachahmung jenes Verfahrens, das von der Natur in drei Milliarden Jahren bis zur Perfektion entwickelt wurde. Wir werden mit Hilfe von Licht aus Wasser billigen Wasserstoff und Sauerstoff machen und unsere Turbinen Tag und Nacht laufen lassen, wir werden aus Wasser, Sonnenlicht und Kohlendioxid Treibstoff herstellen, wir werden Meerwasserentsalzungsanlagen bauen, die außer frischem Wasser auch Strom erzeugen. Glauben Sie mir, das alles wird geschehen. Der Solarbereich wird expandieren, und mit Ihrer Hilfe - von der Sie und Ihre Klienten enorme Profite erwarten dürfen - wird er nur umso schneller expandieren. Die Wissenschaft, der Markt und unsere desolate Lage schreien geradezu nach dieser Entwicklung - das verlangt schon die Logik, das hat mit Idealismus nichts zu tun.«
    Ihm war speiübel. Sein Kopf war leer. Aus Furcht, steckenzubleiben, redete er einfach drauflos und erzählte unwillkürlich etwas Persönliches aus seinem Leben. Anfangs noch verhalten - wie jemand, der mit der Aufzählung seines Frühstücks ein Mikrophon testet - schilderte er seine Erlebnisse vom Nachmittag, die Fahrt vom Flughafen in die Stadt. Doch schon bald war er von seiner Idee angetan. Bis jetzt hatte er noch keinen direkten Kontakt zu seinen Zuhörern hergestellt, er hatte noch nichts Komisches gesagt, hier in England erwarteten die Leute von einem Redner, dass er sie wenigstens ein bisschen unterhielt. Als er auf den Zeitungsladen im Flughafen zu sprechen kam, war er seiner Übelkeit einen Schritt voraus. Als er seine Schwäche für eine bestimmte Art von Chips bekannte, regte sich gedämpfte Belustigung in den Reihen der Anzugträger. Vielleicht war es auch Mitleid.
    Inzwischen war er in seinem Element und wusste, ihm würde schon noch eine passende Schlusspointe einfallen. Er ging ins Detail: der überfüllte Zug, die Wasserflasche auf dem Tisch, daneben die von ihm selbst aufgerissene bunte Tüte, der ihn entnervend anstarrende große junge Bursche. Verständnisvolles Kichern, als er schilderte, wie die beiden Widersacher die Chips verschlangen. Beard schmückte nichts aus, arbeitete aber den Moment heraus, in dem er sich rachsüchtig die Flasche schnappte, sie gierig austrank und auf den Tisch zurückfeuerte. Ausführlich verweilte er dabei, wie der junge Mann ihm den Koffer aus dem Gepäcknetz lüpfte und wie er selbst sich wütend weigerte, auch noch dankbar zu sein. Er zog sie in die Länge, diese Sekunden auf dem Bahnsteig, bevor die Sache sich aufklärte, was er pochenden Herzens und stolz errötend beichtete - und das Publikum kicherte, ja lachte laut auf, als er, das Ganze nun inszenierend, die zweite Tüte mit ausgestrecktem Arm vor sich hinhielt wie Hamlet den Schädel von Yorick. Ja, er schien ihnen ein wenig sympathischer geworden zu sein.
    Eilig kam er zum Schluss: Warum hatte er diese Geschichte erzählt? War das alles weit hergeholt, oder förderte es wichtige Wahrheiten zutage? Keine Zeit, darüber nachzudenken.
    »Im Bahnhof Paddington habe ich zwei Dinge gelernt. Erstens, in einer ernsten Situation, in einer Krise, erkennen wir manchmal zu spät, dass nicht die anderen das Problem sind, nicht das System oder die Natur der Dinge, sondern wir selbst, unsere eigenen Torheiten und ungeprüften Annahmen. Und zweitens gibt es Momente, in denen eine neue Information uns zwingt, unsere Situation vollkommen neu zu überdenken. Unsere Zivilisation befindet sich an so einem Punkt. Wir gehen durch einen Spiegel, alles wird auf den Kopf gestellt, das alte Paradigma weicht dem neuen.«
    Doch dieser krönende Abschluss seiner Rede hatte etwas Verzweifeltes, seine Stimme klang dünn in seinen Ohren, seine

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