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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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sie sich endlich beruhigt hatte, rückte sie wieder näher: »Aber stell dir vor, ganz was Ähnliches ist Ivan auch mal passiert - du erinnerst dich doch an Ivan, vom Laden?«
    Ivan interessierte ihn nicht. Er rappelte sich auf, deutete mit einer galanten Handbewegung eine Verbeugung an, geleitete sie ins Schlafzimmer und begann sie schweigend auszukleiden. Sie war gerne schon nackt, während er noch angezogen war. In irgendeinem früheren Jahrhundert - er wusste nicht genau, in welchem - musste sie mit ihren sanften Rundungen als Ideal weiblicher Schönheit gegolten haben. Mit ihren schmalen Schultern, den breiten Hüften, den schweren Brüsten und ihren zwei Speckgrübchen über dem ausladenden Hinterteil. Diese Grübchen küsste er jetzt. Er saß auf der Bettkante, sie wandte sich ihm zu, ließ sich rittlings auf seine Oberschenkel nieder und schlang ihm die Arme um den Hals. Sie liebkoste seine Stirn, er küsste ihre Brüste. Doch so viel Schönheit war nicht schwerelos. Das Stechen in seinem Knie wurde immer schlimmer, offenbar drohte jeden Moment ein Band aus seiner Verankerung im Knochen zu reißen. Aber sie sagte gerade, dass sie ihn liebe, flüsterte, wie sehr sie ihn liebe, und so musste er warten.
    Endlich packte er sie mit einem Stöhnen, das als leidenschaftlich durchgehen konnte, und legte sie rücklings aufs Bett, nachdem er die Decke beiseitegeschlagen hatte. Im Schlafzimmer war es ziemlich kühl. Mit routinierter Schnelligkeit fuhr er aus seinen eigenen Sachen; schon streckte er sich neben ihr aus und streichelte sie auf eine Art, die manche Frauen etwas zu fachmännisch fanden. Normalerweise konnte Melissa es bei ihren Treffen kaum erwarten, endlich loszulegen, aber obwohl sie seinen Schwanz mit Zeigefinger und Daumen umfasste und ihn mit sachten Bewegungen gewaltig erregte, schien sie diesmal doch lieber reden zu wollen. Ganz aufs Streicheln und Küssen und ihre prickelnden Zärtlichkeiten konzentriert, hörte er anfangs nicht richtig zu. Zusammenhanglos tauchten ihre Worte auf und huschten an ihm vorbei, blitzschnell und beiläufig, wie Fische an einem Korallenriff. Dann kam er zu sich und erkannte, dass sie von ihrer Schwangerschaft sprach. Was sollte das denn jetzt? Aber natürlich - was sonst? Für sie war das kein unpassendes Thema. Sex, Babys, Brüste, Liebe: ein einziger roter Faden, von Generation zu Generation. Kein Strick, ihm Arme und Beine zu fesseln, oder mit dem er sich am nächsten Balken aufhängen konnte - just in dem Moment, als er dachte, endlich, fast schon am Ende seiner aktiven Laufbahn, bekomme sein Leben Sinn und Zweck. Doch er unterdrückte seine Ungeduld, schlug die Augen auf, richtete den Blick an die Decke und hörte zu.
    »... jemanden lieben würde, ohne ihn zu kennen, aber das ist es auch nicht. Wir kennen uns, wir haben uns schon immer gekannt, von Anfang an. Michael, ich habe nicht gewusst, dass es so sein würde, dass es so früh anfangen würde. Es hat schon angefangen, ich liebe sie schon, oder ihn, dieses winzige Wesen, das aus dem Nichts auf uns zukommt, in meinem Innersten schlummert und mit jeder Stunde größer wird und näher kommt. Manchmal liebe ich es so sehr, dass mir ganz weh ums Herz wird. Ich bin so krank vor Liebe, dass ich ständig laut aufstöhnen muss. Ich rede Unsinn, aber ist es nicht seltsam und wundervoll, wie ein Mensch in einem anderen verborgen ist, wie eine russische Puppe? So rätselhaft und alltäglich zugleich. Ich bin so glücklich. Ich rede dummes Zeug. Ich liebe dich, ich liebe dieses Baby in mir und hoffe, auch du wirst es lieben, ich glaube fest daran, Michael, das wirst du, sag, dass du dieses Baby lieben wirst...«
    Sie hatte ihn an sich gezogen, und während sie sich liebten, jammerte sie die ganze Zeit: »Sag es, bitte, sag es...«, bis es unanständig gewesen wäre, nicht nachzugeben. »Ja, das werde ich«, sagte er und küsste sie und dachte, vielleicht sei das nicht mal gelogen, schließlich konnte er nicht in die Zukunft sehen, und es war nicht vollständig auszuschließen, dass er dieses Kind, falls es je zur Welt kam, einmal lieben könnte, auf seine Weise. Und was immer er jetzt sagte, Zeit und Ereignisse würden darüber hinweggehen, das Liebemachen war eine in sich geschlossene Zauberwelt mit eigener Sprache und Regeln, mit ihrer eigenen Wahrheit.
    Sie ließ sich gern Zeit im Bett, war laut und spendabel und liebte es, sich an seinem Rücken festzukrallen, was ganz nach seinem Geschmack war, nur heute Abend nicht.

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