Solar
gedacht, hatte wichtige Stellen markiert oder seine abweichende Meinung durch Unterstreichungen, Pfeile und eingekreiste Anmerkungen festgehalten, während hinter dem Bullauge links von ihm die azurblaue Stratosphäre schimmerte und zehntausend Meter unter ihm die baumlose, in Jahrhunderten blutiger Schlachten plattgewalzte norddeutsche Tiefebene dahinzog, die schließlich vom baumlosen Holland mit seinen Mondrian-Feldern abgelöst wurde. Ebenfalls zu seiner Linken entsandte die hoch am wolkenlosen Himmel stehende Sonne ihren Photonenstrom, der seine Anstrengungen mit Licht und Leuchtkraft versah. Wie könnte er jemals dem Gin entsagen?
Nun aber, um vier Uhr morgens auf seinem Podest aus Eiche und Steingut, war er unglücklich, hockte dort wie Blakes Newton über seine Füße gebeugt und war zu müde zum Schlafen. Das war der Beitrag des Alkohols zur Schlaflosigkeit - er war ausgetrocknet, erschöpft, hellwach. Das übliche Bündel erstarrter Ängste erschien vor ihm im Dämmerlicht des überheizten Badezimmers. Nicht alle seine Sorgen waren abstrakt. Manche waren ausgesprochen konkret: sein Gewicht, sein Herz, das dieser Tage sehr unregelmäßig zu schlagen schien, das Schwindelgefühl beim Aufstehen, die Schmerzen in seinen Knien, seinen Nieren, seiner Brust, die bleierne Müdigkeit, die ihn niemals ganz losließ, der rote Fleck an seinem Handrücken, der sich vor einigen Monaten violett verfärbt hatte, der Tinnitus, ein dünnes Rauschen, das sich niemals legte und jetzt ganz deutlich war, das ebenso konstante Kribbeln in seiner linken Hand. Er empfand diese Symptome als Verbrechen. Er sollte zum Arzt gehen und ein umfassendes Geständnis ablegen. Aber das Urteil wollte er nicht hören.
Dann war da noch seine verwahrloste Souterrainwohnung am Dorset Square, die ihm Vorwürfe machte wie eine Freundin, die er sitzengelassen hatte: Wann kommst du zurück? Ein bedrückendes Detail waren die Stapel oder besser Berge ungeöffneter Briefe. Einige waren von Tom Aldous' Vater, der sich mit ihm treffen und Erinnerungen an seinen Sohn austauschen wollte. Was sollte Beard tun? Dies war nicht der Moment, sich den Kummer eines alten Mannes aufzubürden, eines Vaters, der nach fünf Jahren immer noch trauerte. Außerdem die prekäre Situation des Projekts. Würden die Risikokapitalgeber von Silicon Valley ihm endlich ihr Herz und ihre Bankkonten öffnen? Würde John P. Hedley der Dritte, der Rancher in New Mexico, es sich anders überlegen, bevor sein Bevollmächtigter und Beard morgen in der amerikanischen Botschaft die Papiere unterschrieben? Konnte er Wasser noch billiger in Gase aufspalten, und konnte er verhindern, dass die beiden Gase sich wieder verbanden? Musste der Katalysator ein Oxid sein? Wenn er erst einmal darüber zu grübeln anfing, würde er gar keinen Schlaf mehr finden. Dann schon lieber über Melissas Neuigkeiten nachdenken. Hätte er sich jemals träumen lassen, dass sie so hinterhältig sein konnte? Was diese Angelegenheit betraf, die Schwangerschaft, hatten die drei Stunden Schlaf ihm einige Gewissheit gebracht. Für ihn stand felsenfest: Es durfte nicht geschehen, dieses Kind durfte nicht sein, er würde es nicht zulassen, dieser Homunkulus musste ins Reich reiner Spekulation zurück. Er zweifelte nicht daran, dass er sie herumkriegen würde. Sie gab viel auf seine Meinung. Sie liebte ihn mehr als er sie, das gab ihm Macht.
In Zeiten wie diesen dachte er an Tom Aldous. Der schlaksige, grobknochige Aldous mit den zu großen Zähnen und einem Kopf voller Ideen, von denen manche gar nicht mal so dumm waren. Der arme Tom, vom Rest der Welt längst vergessen. Er, Beard, hatte sich fast etwas vorzuwerfen. Er hätte den lächerlichen Läufer, dieses Erbstück, das Patrice ins Haus gebracht hatte, mit fingerlangen Nägeln in den Boden hämmern sollen. Er hätte sich widersetzen sollen, als sie auf polierten Dielen bestand. Er hätte die Anschaffung dieses hässlichen Glastischs aus Gründen der Sicherheit, nicht des Geschmacks, verhindern sollen. Und wenn es auch kaum seine Schuld war, dass Aldous in seinem Haus herumlungerte, wo er nichts verloren hatte, wäre der Mann doch noch am Leben, wenn Beard ihn auf der Stelle rausgeschmissen hätte, ihn erbarmungslos in seinem Morgenmantel, in Beards Morgenmantel, auf die kalte Straße geschickt hätte, zurück zu seinem Onkel.
Aber, dachte Beard, er durfte nicht zu hart mit sich ins Gericht gehen. Immerhin hielt er den Geist dieses jungen Mannes am Leben. Vor vier
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