Solar
Jahren, in der Mietwohnung im Souterrain - die er inzwischen unvernünftigerweise gekauft hatte -, ausgestreckt auf dem stinkenden Sofa, das immer noch da stand und immer noch nicht besser roch, hatte er, und niemand sonst hätte das vermocht, den wahren Wert von Toms Arbeit erkannt, die auf Beards Arbeit aufbaute, so wie Beard auf Einstein aufgebaut hatte. Was hatte er sich seit dieser Zeit ins Zeug gelegt, noch heute kostete es ihn eine Menge Schweiß: Patente besorgen, ein Konsortium gründen, die Arbeit im Labor voranbringen, Risikokapital auftreiben - wenn alles sich fügte, würde es der Welt tatsächlich einmal bessergehen. Abgesehen von einer anständigen Rendite beanspruchte Beard nur die alleinige Urheberschaft. Was sollte ein Toter damit noch anfangen können? Wozu sich mit Details der Namensgebung herumschlagen, wenn es um eine so dringende Angelegenheit ging? Aldous' gedankliche Substanz würde überdauern, der Rest war vernachlässigbar.
Was waren das doch für erhebende Momente gewesen, als ihm beim Durcharbeiten der Aldous-Akte allmählich ein Licht aufging, während er abends, immer noch auf dem Sofa liegend, im Fernsehen die aktuellen Prozessberichte verfolgte, wo seine künftige Exfrau vor dem Gerichtsgebäude mit bebender Stimme Klartext redete und zum Liebling der Medien wurde. Und was Tarpin, den Bauhandwerker, betraf: Dass ein Mann, der zweier Verbrechen schuldig war, nämlich Patrice zu ficken und ihr ein Auge blau zu schlagen, wegen eines anderen, das er nicht begangen hatte, in den Knast wandern sollte, das hatte Beard nie sonderlich zu schaffen gemacht.
Niemand kann vorher wissen, welche Nöte die Schlaflosigkeit auslösen. Selbst bei Tageslicht und unter optimalen Bedingungen entscheidet man selten frei über das, was einen bedrückt. Was ihn jetzt, Stunden vor Anbruch der Winterdämmerung, nicht weniger beunruhigte als Gesundheit, Geld, Arbeit, eine bevorstehende Abtreibung, ein tödlicher Unfall, war dieser spitzbärtige Dozent oder Professor vom Savoy, dieser Lemon, nein, Mellon, mit dem stechenden Blick, der sich erdreistet hatte, ihm vorzuhalten, er sei unglaubwürdig, ein Betrüger, ein Plagiator. Dabei war Mellon der eigentliche Dieb, denn er hatte sich Beards echtes Erlebnis unter den Nagel gerissen und es zum Untersuchungsgegenstand degradiert, einem Fallbeispiel zum Thema landläufige Selbsttäuschungen, köstliche Anekdoten, die kursierten wie ein schmutziger Witz. Mühelos, wie es nur im Zustand der Schlaflosigkeit gelingt, schloss sich seine Hand um Mellons Kehle und drückte zu, bis jener vor ihm auf die Knie sank und sich nach Luft ringend entschuldigte. Beard konnte durchaus grob werden, aber er hatte noch nie jemanden körperlich angegriffen, nicht einmal in seiner Kindheit. In Tagträumen jedoch verblüffte er seine Gegner mit erstaunlichen Gewaltausbrüchen. Jetzt, mit leicht beschleunigtem Puls, fühlte er sich schon besser und wacher als zuvor. Sein Optimismus gewann die Oberhand. Sein Leben hatte durchaus noch Potential.
Zum Beispiel hatte er ein faszinierendes Projekt in petto, für das er allerdings seinen Kollegen Toby Hammer erst noch gewinnen musste. Demnächst traten in Europa Vorschriften zum Emissionshandel in Kraft, eines Tages vielleicht auch in den usa. Die Idee bestand darin, Hunderte Tonnen Eisenspäne ins Meer zu kippen; in dem so angereicherten Wasser würde das Plankton zu stärkerem Wachstum angeregt. Dadurch wiederum würde der Atmosphäre mehr Kohlendioxid entzogen. Die exakte Menge ließe sich berechnen und in Emissionsgutschriften umwandeln, die im Rahmen des Emissionshandels an die Schwerindustrie verkauft werden könnten. Wenn ein Unternehmen Kohle verbrauchte, aber entsprechend viele dieser Gutschriften kaufte, konnte es mit Recht behaupten, klimaneutral zu wirtschaften. Es ging darum, die Nase vorn zu haben, bevor dergleichen in Europa gang und gäbe war. Man musste Schiffe und Eisenspäne auftreiben, sich geeignete Standorte sichern und den juristischen Kleinkram erledigen. Toby Hammer war genau der richtige Mann dafür. Irgendwelche Meeresbiologen, die zweifellos ihre eigenen geheimen Pläne verfolgten, hatten von der Sache Wind bekommen und in der Presse verbreitet, dass Eingriffe am Beginn der Nahrungskette eine Gefahr darstellten. Denen musste mit soliden wissenschaftlichen Argumenten das Wasser abgegraben werden. Beard hatte dazu bereits zwei Aufsätze verfasst, wartete aber noch auf den richtigen Moment für ihre
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