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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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der Evolution, das Kind an der ersten Klippe vorbeizuschiffen.
    Er schenkte sich nach und spürte, wie sein Widerstand, seine aggressive Empörung, einem leichtfertigen Fatalismus wich. Besser, er schob das Problem beiseite und lenkte den Abend in angenehmere Bahnen - warum nicht mit dieser schönen, fast jungen Frau poussieren, ihr köstliches Mahl und den dunklen Wein genießen, Liebe machen, sie schläfrig umschlingen, schlafen. War er faul und genusssüchtig, oder war dies gesunder Lebenshunger? Er kannte die Antwort, streckte den Arm aus und legte seine Hand auf ihre.
    »Ich bin froh, dass du so offen zu mir warst. Danke.«
    Er ließ seine Hand, wo sie war, und sagte ihr, seine heftigen Worte täten ihm leid, natürlich sei sie keine Erpresserin, es mache ihn sehr glücklich, wieder bei ihr zu sein, sie habe recht, sie sollten sich nicht streiten. Sie starrte ihm die ganze Zeit ins Gesicht, wie einem Hypnotiseur. Wieder bekam sie feuchte Augen. Sie stand auf, kam um den Tisch herum, ging neben ihm in die Knie und küsste ihn inbrünstig. Als sie zu ihrem Stuhl zurückging, schien alles in Ordnung, und sie aßen in Frieden weiter. Er verdrückte drei Portionen Huhn mit Chili und erzählte dabei von seiner Arbeit, seinen Reisen, der Konferenz in Potsdam, dem Stand der Dinge in New Mexico und von einer Forschergruppe am Massachusetts Institute of Technology, die sich wie er mit künstlicher Photosynthese beschäftigte, jedoch achtzehn Monate im Hintertreffen war. Er sprach von der Schlichtheit und Schönheit seines Modells, das keine beweglichen Teile habe, von den Berechnungen einer Oxforder Gruppe zur optimalen Form eines Sonnenlichtreflektors, die entgegen seinen Erwartungen keine Parabel sei.
    Zweifellos langweilte er sie, redete nur, um das Baby auf Distanz zu halten, um es in ihren Gedanken durch seine eigenen Ideen, sein eigenes Baby, zu ersetzen. Manchmal half sie ihm mit einer Zwischenfrage weiter, meist aber schwieg sie und sah ihn nur lammfromm an. Sie liebte einen fetten Glatzkopf, für sie der Inbegriff von Ernsthaftigkeit und Engagement, der nicht bloß der Vater ihres Kindes war, sondern auch der Vater, den zu umsorgen sie sich sehnte, der Vater, der sich noch nicht mit seinem Schicksal angefreundet hatte, sich jedoch eines Tages fügen würde, dessen war sie sich gewiss.
    Er glaubte sich allgemeinverständlich auszudrücken, als er ihr von der neuesten Sensation berichtete - nicht mehr nur ein Elektron für jedes Photon, sondern zwei, und eines Tages vielleicht sogar drei! Beim Zuhören machte sie das Gesicht, das er so mochte, zwischen einem Schmollmund und einem schiefen Lächeln, als könne sie sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen. Doch nichts von dem, was er sagte, war auch nur halbwegs amüsant. Sie hatte Besseres verdient. Also begann er von seinem Abenteuer im Zug zu erzählen, und da er sich immer noch aufgebläht und überhitzt fühlte, schlug er vor, sie sollten sich wieder aufs Sofa setzen.
    Als er sein Erlebnis im Savoy geschildert hatte, war es noch frisch gewesen. Jetzt kamen drei Dinge zusammen - seine Erinnerung an die Ereignisse, die etwas frischere Erinnerung an seine erste Schilderung der Ereignisse und der Wunsch, sie mit einer netten Anekdote nach dem Essen zum Lachen zu bringen, damit sie ihn wieder liebgewann und das ernste Thema fürs Erste vom Tisch wäre. Alles, was er jetzt hervorhob, veränderte oder hinzufügte, war durchaus plausibel, manches wahr. Er plagiierte sich perfekt, verwendete dieselben Redewendungen, Kunstpausen und Tempowechsel wie zuvor am Rednerpult. Den Mitpassagier machte er größer und bedrohlicher, sich selbst zum totalen Trottel: impulsiv, gierig, voller Vorurteile. Gegen Ende, als ihm sein Gepäck heruntergereicht wurde, stellte er die Hilfsbereitschaft des jungen Mannes als eines Heiligen würdig dar. Als geschickter Erzähler hielt er alle Einzelheiten zurück, die den Augenblick der Offenbarung - als er in seine Tasche griff und die ungeöffnete Chipstüte entdeckte - hätten erahnen lassen.
    Die Überraschung war vollkommen. Genau im richtigen Moment schrie Melissa verblüfft auf. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände, schüttelte ihn und sagte: »Du Dummerchen, du Esel! Oh, ich wäre zu gern dabei gewesen!« Immer noch lachend, holte sie ihren Wein, das kaum angerührte Glas, sie küssten sich, lachten zusammen und lagen einander in den Armen. Sie schob ihn von sich weg und sagte: »Du Rüpel!«, und gedankenverloren: »Der arme Kerl!«
    Als

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